Ich höre dir zu – Hören mit „vier Ohren“
In diesem Kommunikationsmodell weist er auf vier parallele Ebenen (Sachebene, Selbstoffenbarungsebene, Beziehungsebene und Appellebene) einer Kommunikation hin. Die vier Ebenen werden oft zusätzlich visualisiert durch vier Ohren und vier Münder. Die sozial-caritative Ehrenamtsarbeit ist sehr geprägt von unterschiedlichen Gesprächssituationen. Aktives, differenziertes und ungestörtes Zuhören ist somit eine wichtige Voraussetzung im ehrenamtlichen Engagement.
Was passiert beim Gegenüber, wenn er/sie bemerkt: Ich höre dir zu?
In der Regel ist das für einen Menschen ein seelisch aufbauendes Erlebnis. Es tut gut, sich verstanden zu fühlen, vielleicht sogar auf einer tieferen Ebene. Es tut gut, Resonanz zu erfahren. Und es erleichtert die Selbstklärung bei schwierigen Lebensfragen.
Zuhören ist mehr als mit dem Kopf zu nicken. Wann würden Sie sagen ist man eine gute Zuhörerin bzw. ein guter Zuhörer?
Zum einen die simultane Achtsamkeit auf Inhalt, Formulierung, Tonfall, Mimik und Gestik. Zum anderen das integrale Hören mit "vier Ohren": welche Botschaften erreichen mich auf der Ebene des Sachinhaltes, der Selbstoffenbarung, der Beziehung und des Appells? Gleichzeitig aber auch ein permanentes Hören nach innen: Welche Gedanken und Gefühle, welche Stimmungen löst das, was der andere von sich gibt, in mir aus? Zum guten Zuhören gehört schließlich und nicht zuletzt auch, durch gelegentliche Resonanz zu erkennen zu geben, was ich verstanden habe, wofür ich Mitgefühl habe, was ich meine, zwischen den Zeilen gehört zu haben. Und nachzufragen, wenn mein Verständnis an irgendeiner Stelle hakt oder Lücken aufweist.
Jemandem zuhören ist nicht immer leicht.
Was können Ehrenamtliche machen, um mögliche Fehler zu verhindern?
Ein Fehler ist sicher das schnelle "Ich-weiß-schon-worum-es-geht!", womöglich noch gefolgt von einer Bewertung oder einem Ratschlag. "Ach, ich sehe schon, Sie sind neidisch - tja, das sollte man nicht sein! Es ist immer ein Fehler, sich mit anderen zu vergleichen!" - Das Wort "Neid" ist wie ein Flaschenetikett: Es steht drauf, aber was in der Flasche drin ist, kann ich als Zuhörer noch nicht wissen. Ist der Neid eine Missgunst, die ausgerechnet der beneideten Person das Glück nicht gönnt? Oder steckt eine Portion Anerkennung darin, was der andere erreicht hat? Oder ist das Gefühl für Gerechtigkeit verletzt (manche sogenannte "Neiddebatte" ist in Wahrheit eine Gerechtigkeitsdebatte!)? Oder wird im Neid eine eigene Sehnsucht spürbar? Wohin geht diese Sehnsucht? - An wichtigen Punkten lohnt es sich, weiter zu forschen!
Ein weiterer Fehler: aus Höflichkeit länger zuhören, als ich dafür eine Kapazität habe. Zuhören ist anstrengend, Zuhörkapazität ist begrenzt. Wenn ich über längere Zeit einen Erzählstrom über mich ergehen lasse, der mich kognitiv oder emotional überfordert, der meine eigene Vitalität zum Erliegen bringt, dann sollte ich nicht gute Miene zum strapaziösen Spiel machen. Das Unterbrechen ist dann keine Unhöflichkeit, sondern ein Liebesdienst um des guten und tragfähigen Kontaktes willen. "Moment, darf ich mal unterbrechen, es wird mir jetzt zu viel auf einmal! Darf ich einmal sagen, was ich bisher verstanden habe? Und vielleicht auch sagen, was ich selber dazu denke?"
Manche Menschen reden viel und gerne und ohne Punkt und Komma. Vielleicht, weil das Herz zu voll ist und der Mund übergeht. Vielleicht aber auch, weil hier eine Kontaktstörung habituell geworden ist, die den anderen nur als Claqueur (miß)braucht. In dem Falle wäre es ein Kunstfehler, eine solche monologische Gewohnheit dadurch zu verstärken, dass ich mitspiele.
Was kann ich tun, wenn ich merke, mein Gegenüber hört mir nicht zu?
Dieses Gefühl äußern z. B. über eine konkrete Frage:
"Hallo sind Sie noch da? Was geht gerade in Ihnen vor?" Die (gefühlte) Kontaktstörung im Hier und Jetzt hat immer Vorrang vor den Inhalten über dann und dort.
Was sollte man sich vorher klar machen beim Zuhören?
Was man aus dem Gesagten "heraushört", hat viel mit den Erfahrungen, dem Lebensumfeld und den Werten der Zuhörenden, etc. zu tun. Jede und Jeder sollte sich klarmachen: Das Missverständnis lauert an jeder Ecke und ist das Natürlichste der Welt, da die Deutung des Gesagten ja immer durch den Zuhörenden geschieht. So könnte z. B. auf die Aussage einer Besucherin in einer Kleiderkammer: "Hängen hier aber viele Kleider!", die Antwort von der dort arbeitenden Ehrenamtlichen folgen: "Sie müssen Ihre Kleider ja nicht bei uns kaufen!"
Was ist passiert? Umgangssprachlich würde man sagen, die Ehrenamtliche hat die Aussage wohl in den "falschen Hals" bekommen. Die Besuchende wollte lediglich mitteilen, dass sie sich freut über die große Kleiderauswahl. Die Ehrenamtliche hörte (mit ihrem Beziehungsohr) heraus, dass es der Besucherin wohl missfällt, dass hier zu viel herumhängt und dass die Ehrenamtlichen doch gefälligst mal etwas besser aussortieren und ihre Kleiderkammer in Schuss bringen könnten.
In dem vorliegenden Gespräch konnte die Besuchende das Missverständnis gleich erkennen und ausräumen, indem Sie der Ehrenamtlichen erklärte, dass Sie sehr erfreut ist über die große Auswahl hier. Dies ist jedoch nicht immer so einfach zu erkennen. Verdeckte Missverständnisse, werden sie nicht aufgeklärt, stören dann zukünftig empfindlich die Beziehung. Deshalb ist es wichtig, mögliche Irritationen möglichst gleich anzusprechen und zu klären.
Im Zweifel: immer noch mal wiederholen und bestätigen, was ich meine, verstanden zu haben! Bei schwierigen Mitteilungen kann auch ein Zettel mit Bleistift hilfreich sein, um eine kleine Skizze zu machen!
Was ist besonders zu bedenken, wenn man als älterer Ehrenamtlicher mit jungen Menschen ins Gespräch geht?
In jeder Begegnung hilft Verständlichkeit (auf der Sachebene), Ehrlichkeit (auf der Selbstkundgabeebene), Respekt (auf der Beziehungsebene) und Deutlichkeit (auf der Appellebene, bei Aufforderungen, Empfehlungen). Genau dies hilft im Gespräch mit Jugendlichen.
Wo kann Ehrenamtlichen das bewusste "Hören mit vier Ohren" (Sachinhalt, Selbstoffenbarung, Beziehung und Appell) konkret helfen?
Angenommen, Sie sind im Besuchsdienst unterwegs und werden mit den Worten empfangen: "Ach, lassen Sie sich auch mal wieder blicken?" Je nachdem, welches Ihrer vier Ohren besonders anspringt, werden Sie unterschiedlich reagieren: Wenn Sie mit dem Beziehungsohr einen Vorwurf heraushören, dann werden Sie sich vielleicht rechtfertigen wollen, zum Beispiel "Ich bin ja bei Gott nicht für Sie allein zuständig, Herr/Frau…" Oft ist es günstig, mit einem anderen Ohr zu hören. Mit dem Sachohr hören Sie nur, dass die Seltenheit ihrer Besuche thematisiert wird, und entsprechend könnten Sie Auskunft geben und erläutern, wie die Besuchsfrequenz bei Ihnen geregelt ist. Noch günstiger kann es sein, mit dem Selbstkundgabe-Ohr zu hören. Da überhören Sie den Vorwurf und reagieren auf die Selbstoffenbarung ("Ich fühle mich einsam, ich habe es sehr vermisst, dass jemand vorbeikommt!"). Dieses Ohr legt eine emphatische Reaktion nahe: "Sie haben mich schon vermisst?" oder "Es wäre schön, wenn häufiger jemand bei Ihnen vorbeikäme?" Schließlich kann auch Ihr Appell-Ohr anspringen ("Kommen Sie bitte häufiger!"). Und je nachdem könnten Sie das dann zusagen oder aber sich abgrenzen und als leider unmöglich erläutern.
Auf der nächsten Stufe der Virtuosität gelingt es Ihnen vielleicht sogar, auf mehrere Botschaften gleichzeitig einzugehen, zum Beispiel: "Sie haben mich schon sehr vermisst und sind enttäuscht, dass ich nicht öfter komme? Wissen Sie, ich würde sehr gern öfter kommen, aber bei uns ist das so und so geregelt. Was ich Ihnen aber versprechen kann…" (hier reagieren Sie zunächst auf die Selbstkundgabe, dann auf die Sachebene, dann auf den Appell).
Was kann passieren, wenn ein Ohr der "vier Ohren", mit der man das Gehörte bewerten kann, besonders gut ausgeprägt ist?
Dann kann es passieren, dass Sie sich auf dieses Ohr spezialisieren und stereotyp z. B. immer mit dem Sachohr hören, obwohl jemand vom Herzen her verstanden werden will. Oder stereotyp immer mit dem meist hochempfindlichen Beziehungsohr hören, und dann leicht verstimmt oder empört oder im Selbstwertgefühl getroffen sind. Oder stereotyp mit dem Appellohr hören, immer auf dem Appell-Sprung sind, um es dem Gegenüber recht zu machen - oder sich selbst sogleich unter Lösungsdruck setzen.
Wenn Sie eine solche Spezialisierung bei sich beobachten, haben Sie schon viel gewonnen! Und Sie können bei den nächsten Gelegenheiten ausprobieren, einmal ein anderes Ohr, zum Beispiel das empathische Selbstkundgabe-Ohr auf Empfang zu schalten.
Prof. Dr. Friedemann Schulz von Thun
Psychologe, Kommunikationswissenschaftler, Autor und Trainer, Hamburg
Publiziert in: Mission MitMensch! Agentinnen und Agenten der Nächstenliebe, Jan. 2020