Wie wählen Journalist*innen aus, über was sie berichten?
"Ist das Projekt neu? Bekomme ich Kontakt zu Beteiligten? Wie viele Leute werden für das Projekt gesucht?" Das waren die ersten Fragen, die die Journalistin Caroline Becker ihrer Ansprechpartnerin bei der Caritas in Frankfurt am Main gestellt hat. Sie hatte zufällig gesehen, dass für geflüchtete Kinder ehrenamtliche Mentor*innen gesucht werden. Darüber wollte sie für die Frankfurter Allgemeine Zeitung (FAZ) schreiben, für die sie als freie Journalistin arbeitet. "Auf die sogenannte Flüchtlingskrise folgte ein großer Aufschrei. Aber Integration ist ja ein Dauerthema. Das wollte ich anhand des Projektes zeigen", sagt sie. Alles lief problemlos, erzählt sie zwei Monate später am Telefon: Die Caritas-Mitarbeiterin organisierte schnell ein Tandempaar. Die beiden waren gut erreichbar. Die FAZ-Redaktion wollte das Thema haben. Im Juli konnte Caroline Becker ihren Text "Ein kleiner Beitrag zur Integration" online und in der Zeitung veröffentlichen. Im Zentrum des Textes: die ehrenamtliche Mentorin eines jungen Geflüchteten.
Wie die Redaktionen ihre Themen auswählen
Viele Sozialverbände betreiben längst eigene Medien und bestimmen selbst, welche Themen sie in ihren Publikationen, in Facebook, Instagram und Co. setzen. Trotzdem wollen viele ihre Geschichten auch in klassischen regionalen, überregionalen und kirchlichen Medien platzieren. Dafür müssen sie wissen, wie Journalist*innen ihre Themen auswählen. Wer mit Journalist*innen darüber spricht, wird feststellen, dass die Themen neu und relevant für ihr Publikum sein müssen. Aber auch Pressearbeit, die sich an den Bedürfnissen einer Redaktion orientiert, erhöht die Chance, dass ein Thema aufgenommen wird. Manche Auswahlkriterien können aber auch die PR-Leute nicht beeinflussen.
Warum hat es gerade die ehrenamtliche Mentorin in die FAZ geschafft? Alles nur Zufall? Ja und nein. Dass die Journalistin Caroline Becker auf das Mentoringprojekt gestoßen ist, war zunächst in der Tat Zufall. Aber der Rest lief mustergültig ab, Pressearbeit wie sie Journalist*innen hilfreich finden. Hätte die Caritas-Mitarbeiterin keine Beteiligten vermitteln können, die bereit sind, ihre Erfahrungen zu teilen und sich fotografieren zu lassen, hätte die Journalistin vermutlich nicht über das Projekt berichtet. So aber habe die FAZ das Thema gerne genommen. "Die freuen sich, wenn sie zwischendurch mal ein längeres Erzählstück für den Regionalteil von mir bekommen", sagt die Journalistin.
Themen nah am Menschen erzählen
Caroline Becker wollte unbedingt direkt mit einem Mentoringtandem für ihren Text sprechen. Sie hat in ihrer Ausbildung an der katholischen Journalistenschule ifp gelernt, dass sie Themen nah am Menschen erzählen soll. "Lassen Sie die Menschen zu Wort kommen", hat schon Walther von La Roche in seinem Lehrbuch 1975 angehenden Journalist*innen geraten. Ein Rat, den auch heute noch viele Ausbilder*innen geben. Caroline Becker hat in ihren Kursen an der Journalistenschule viele Themen für viele verschiedene Medien bearbeitet. Eines aber ist immer gleich. In der Redaktionskonferenz fragen die Lehrenden nicht nur nach Themen, sondern auch nach den sogenannten Protagonisten oder Fallbeispielen. Das sind die Hauptpersonen einer journalistischen Geschichte. Dass Journalist*innen in den vergangenen zwanzig Jahren immer häufiger Fallbeispiele verwendet haben, um ein Thema anschaulich zu erzählen - gerade auch für Fernsehen und Radio - bestätigen Medienanalysen aus der Forschung.
Wissen vermitteln und Gefühle ansprechen
"Ein Thema ist noch keine Geschichte", sagen Lehrende häufig, wenn Anfänger*innen in einem Ausbildungsseminar abstrakte Vorschläge machen wie Obdachlosigkeit, Alkoholismus, Einsamkeit im Alter und so weiter. Sie erinnern dann an den sogenannten Erzählsatz, der helfen soll, eine Geschichte konkret zu machen, Wissen zu vermitteln und Gefühle anzusprechen. Caroline Becker würde in so einer Situation ihr Thema "Mentoringprojekt" etwa so formulieren: "Ich erzähle die Geschichte einer Studentin, die ehrenamtlich einen syrischen Jungen unterstützt. Damit Integration gelingt, bräuchte es mehr Ehrenamtliche wie sie. Der Bedarf ist noch immer enorm." Wenn Journalist*innen Geschichte sagen, meinen sie keine erfundene Geschichte, sondern eine recherchierte Geschichte, die mit dramatur-gischen Mitteln erzählt wird. "Storytelling" steht dann auf dem Stundenplan junger Journalist*innen.
Vielseitige Presse- und Öffentlichkeitsarbeit
Damit es ein soziales Thema in die journalistische Auswahl schafft, hilft geschickte Presse- und Öffentlichkeitsarbeit. So ein Beispiel erzählt die Journalistin Ruth Lehnen. In der Jahresserie "Hoffnungsgeschichten" ihrer Redaktion der hessischen katholischen Kirchenzeitungen war noch ein Beitragsplatz offen. Als Themenidee für Juli hatte die Redaktion notiert, "geflüchtet, angekommen, hilft jetzt evtl. sogar anderen". Da erhielt eine Kollegin die Pressemitteilung des Malteser Hilfsdienstes, die genau so eine konkrete Geschichte schilderte inklusive Kontakt zum Projektverantwortlichen. Die Kollegin rief an und bekam einen jungen Syrer vermittelt, der selbst viel Hilfe erhalten hat und sich jetzt für andere Geflüchtete engagiert. "Es kommen bessere Gedanken", überschrieb sie ihre Geschichte.
Pressemitteilung, Kontaktaufnahme, Veröffentlichung: So einfach kann es sein. Aber natürlich läuft es auch in der Redaktion von Ruth Lehnen nicht immer so glatt. Öffentlichkeitsarbeit sei oft sehr absenderorientiert, erzählt sie. Schwierig sind Pressestellen, die wenig Vertrauen in die eigenen Leute haben, jedes Wort kontrollieren wollen und Strukturen statt Themen liefern. Erst würden die Oberbosse genannt, dann das Thema und dann vielleicht noch Betroffene, sagt Lehnen. Dabei seien es die Leute an der Basis, die sie brauche. "Das sind so befriedigende Gespräche. Das willst du als Journalistin ja gerne haben!", sagt sie. Je langwieriger der Prozess, je mehr Kontrolle, desto weniger Chancen hat ein Thema: "Wir stehen ja unter einem enormen Zeitdruck."
Persönlicher Anruf bei der Lokalredaktion
Der persönliche Tipp ist häufig der beste Weg, auf ein Thema aufmerksam zu machen. "Da sollte man ruhig mal zum Telefonhörer greifen, wenn man eine tolle Geschichte hat. Wenn mich jemand zwei- oder dreimal freundlich nervt, dann nehme ich eine Geschichte eher mal rein", ermutigt Kristian Blasel. Natürlich sucht er für seine Lokalausgabe der Kieler Nachrichten vor allem Themen, die Neuigkeitswert haben und originell sind. Bei einer Lokalzeitung müsse das Thema aber gar nicht so außergewöhnlich sein, schränkt Kristian Blasel ein: "Wenn jemand anruft und sagt, hier ist einer, der hat’s echt verdient, dass über ihn berichtet wird, weil der sich schon seit 25 Jahren engagiert, dann reicht mir das", sagt er. Sich wiederholende Ereignisse wie Ausflüge oder Feiern hätten dagegen kaum Chancen. Eine Pressemitteilung, die den achten Helferkreis Integration ankündigt, landet im besten Fall auf der Seite mit den Terminen, bisweilen drückt der Empfänger gleich aufs Papierkorb-Symbol.
Nachrichtenfaktoren und persönliche Interessen
Neuigkeit und Originalität zählen in der Journalismusforschung zu den sogenannten Nachrichten-faktoren. Dahinter steckt ein in der Fachwelt immer wieder diskutiertes Set an Kriterien, nach denen Pressemitteilungen, Nachrichten, Tipps und viele andere Nachrichtenquellen in wichtig und unwichtig sortiert werden. In der Praxis und der praktischen Journalistenausbildung schrumpft dieses Set häufig auf wenige Schlagworte zusammen: Neuigkeit, Relevanz, Nähe, Überraschung, Konflikt und Prominenz. Studien aus der Kommunikationswissenschaft haben gezeigt, dass neben den Nachrichtenfaktoren auch persönliche Interessen, Einstellungen und Werte von Journalist*innen die Auswahl von Themen beeinflussen. Gerade junge Leute beschäftigen sich gerne mit sozialen Themen. Bei einem Reportageseminar im Frühjahr 2020 an der katholischen Journalistenschule ifp ging es zum Beispiel in jedem zweiten Vorschlag um Menschen am Rand der Gesellschaft: um Angehörige von psychisch kranken Menschen, um das Leben in einer Demenz-WG oder arme Menschen in einer reichen Stadt wie München.
Kristian Blasel von den Kieler Nachrichten muss aber noch ganz andere Bedingungen bei der Themenauswahl berücksichtigen: Wo wohnen meine Abonennt*innen und was interessiert sie? Abonne-ments sind die wirtschaftliche Grundlage einer lokalen Tageszeitung. Kristian Blasel und seine Kolleg*innen berichten gerne und regelmäßig über soziale Themen. Aber er weiß auch, dass sie damit selten viele Leser*innen erreichen: "Da muss man ehrlich sagen, soziale Geschichten wandeln sich eher selten in Abos um oder generieren Klicks."
Zeitdruck, die Suche nach neuen, exklusiven Themen, interessanten Menschen und die tägliche E-Mail-Flut kennt auch Simone Salden, stellvertretende Ressortleiterin beim Spiegel in Hamburg. Ihre Themen im Deutschland-Panorama-Ressort müssen bundesweit von Interesse sein. Da haben es alltägliche Geschichten noch etwas schwerer, ausgewählt zu werden. Ungewöhnliche Perspektiven, neue Interviewpartner und besondere Menschen finden leichter ins Heft oder auf die Website. Die Suche nach exklusiven Themen sei manchmal aufwendiger als die Recherche und das Aufschreiben, sagt Simone Salden. Neugierig wird sie immer dann, wenn Journalismus Konflikte sichtbar macht und Betroffene Kritik äußern und potenzielle Lösungen aufzeigen. Wenn Leute zum Beispiel erzählen, wo Unterstützung fehlt, dann sei das nachvollziehbar und glaubwürdig. Sie empfiehlt: "Haben Sie keine Angst, Probleme zu benennen." Auch da nehmen Pressestellen in Sozialverbänden eine wichtige Rolle ein. Sie seien sozusagen die "Gatekeeper", also Türsteher, die den Zugang zu Betroffenen regeln. Sie sollten gerne auch aktiv Kontakt zu Menschen vermitteln, die eine besondere Geschichte zu erzählen haben und sonst nicht in den Medien auftauchen.
Wenn eine Pressestelle mit Kontakten weiterhelfen kann, schafft es ein Thema auch ein zweites Mal in die Medien. Die freie Journalistin Caroline Becker hat nach den guten Erfahrungen in Frankfurt das Mentoringprojekt gleich noch einmal vorgeschlagen, dieses Mal für ein Videojournalismus-Seminar. Die Caritas in München vermittelte ihr ein ähnliches Projekt wie in Frankfurt und zügig den Kontakt zu einem Mentoringtandem. Mentee und Mentorin sind zudem bereit, sich filmen zu lassen. Caroline Beckers Dreh steht. Im Fokus: erneut eine ehrenamtliche Mentorin der Caritas.
Autorin: Isolde Fugunt
Studienleiterin katholische Journalistenschule ifp München
Die Urheberrechte dieses Textes liegen bei der Autorin Isolde Fugunt.
Publiziert in: Ehrenamt setzt sich ein! Sozial aktiv - politisch wirksam, Jan. 2021