Ich teile mit dir - Geteilte Freude ist doppelte Freude
Und so gewinnt die alte Spruchweisheit gerade angesichts wachsender gesellschaftlicher Anonymität neues Gewicht: "Geteiltes Leid ist halbes Leid, geteilte Freude ist doppelte Freude!"
Es ist alles gut organisiert. Die Familie hält zusammen. Jede und jeder ist bereit, Zeit und Kraft für die pflegebedürftige Mama aufzubringen. Ganz selbstverständlich. Hat sie doch zeitlebens ihre Zeit mit viel Liebe und Fürsorge auf alle aufgeteilt. Nun liegt sie schon seit Monaten sterbenskrank im Bett. Niemand weiß, wie lange es noch dauern wird. Und niemand kann seine beruflichen Verpflichtungen vernachlässigen. Die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter des mobilen Pflegedienstes, des pfarrlich organisierten Besuchsdienstes und der Hospizgruppe sind regelmäßig da. Das Räderwerk der Hilfe greift gut ineinander. Nur eine Stunde am Tag ist nicht abgedeckt. Jene zwischen 8 und 9 Uhr in der Früh. Zur selben Zeit liest der Pensionist in der Nachbarschaft tagtäglich seine Tageszeitung. Seite für Seite. Eine Stunde lang. Man weiß es und klopft an und bittet. Ob er sich vorstellen könne, diese Stunde mit der in der Regel schlafenden, kranken Nachbarin zu teilen. Er sagt ja. Entlastendes Aufatmen. Die geschenkte Zeit wird zum Geschenk für alle. Nach dem Ableben der Frau spricht er es aus: Sie fehle ihm, auch die geteilte Zeit mit ihr fehle ihm. Sie hätten über Gott und die Welt geredet und viel gelacht.
Zeit zu teilen - bei meinem Nächsten Zuhause
Meine Erfahrung ist, den anderen in seinem Zuhause aufzusuchen, dort seine Zeit zu teilen, ist besser, als darauf zu warten, dass er zu mir kommt. Der Besuch schafft Gemeinschaft. Er holt den anderen dort ab, wo er sich sicher und stark fühlt. Die Besuchskultur in unseren Pfarrgemeinden und Gemeinden ist sehr kostbar. Lassen wir sie nicht abreißen! Gehen wir auch auf jene zu, die (scheinbar) nicht zu uns gehören. Sie gehören Gott. Das sollte uns genügen. Kirche ist keine stationäre Einrichtung, sie ist Großfamilie. Besuche schaffen Gemeinschaft und Verbindlichkeit. Besuche sind Medizin gegen die Einsamkeit und nicht selten ein Versöhnungsakt. Wer besucht, verlässt sicheren Boden. Besuche erfordern Behutsamkeit, Zurückhaltung und Mut zum Dienen. Eine meiner Lieblingsszenen ist jene, in der Moses vor den brennenden Dornbusch tritt. Der brennende Dornbusch ist für mich durchaus ein Bild für den leidgeprüften Menschen, der manchmal vor Schmerz, Angst und Enttäuschung die Dornen ausfährt. Aus diesem Dornbusch spricht Gott (wie aus allen Armen und Leidgeprüften… siehe Mt. 25): "Moses, du betrittst heiligen Boden. Zieh deine Schuhe aus!" Eine Aufforderung, mit ganz großer Achtsamkeit und behutsamem Einfühlungsvermögen in die Räume der Not zu gehen. Letztendlich stehen wir wie Moses neben den Schuhen. Und nur so können wir die Mithilfe Gottes, ohne die es nie geht, schätzen und annehmen lernen. Gott ist immer schon vor uns da. Besuchsdienst ist Gottesdienst. Wir, die wir besuchen, werden somit ein mitliebender Teil dessen, von dem man sprach als jenem, der "da ist, immer schon da war und immer da sein wird". Eine Kirche, die von Krisen heimgesucht wird, muss von Neuem suchen und besuchen lernen.
Fünf Brote und zwei Fische - ein Wunder des Teilens
Immer wieder werde ich mit der Kritik an unserem Engagement angesichts der großen Hunger- und Flüchtlingskatastrophen konfrontiert. Wäre es nicht die größte Katastrophe, nichts zu tun, am apathischen Kältetod des Mitgefühls zugrunde zu gehen? Das Evangelium "Fünf Brote und zwei Fische" (Mt 14,13-21) liefert mir die Antwort und Ermutigung. Jesus zeigt Mitgefühl und setzt Taten. Er war wohl verrückt zu glauben, mit fünf Broten und zwei Fischen Tausende zu sättigen. So wie es vielleicht verrückt erscheinen mag, dass überschaubare Spendengelder aus Tirol jährlich über 50.000 Menschen in Afrika ein Überleben sichern. Jesus glaubte an die Kraft der hilfsbereiten Verrücktheit und sorgte für Überraschung. Ohne Hokuspokus. Ich glaube nicht, dass er durch himmlische Zaubertricks Fische und Brote zu einer explosionsartigen Vermehrung geführt hat. Es war das Wunder des Teilens, das die Menschen ergriffen, genährt hat. Er ahnte wohl, dass alle einen kleinen Vorrat in der Tasche hatten; angstvoll darauf bedacht, diesen den begehrlichen, neidvollen Blicken der anderen nicht auszuliefern. Da brauchte es das Vorbild, den mutigen Vorstoß zum furchtlosen Teilen des Wenigen. Die Menschen ließen sich begeistern, etwas für andere übrig zu haben. Das Wunder passierte.
Für Gott gibt es keine Nebenrollen
Auf der Weltbühne Gottes gibt es keine Nebenrollen und Randfiguren. Alle Menschen sind Ebenbilder Gottes und somit Hauptdarsteller und potentiell "Nächste". Ein Hinweis, dass das "Allerheiligste" nicht nur in goldgefassten Monstranzen zu finden ist, sondern im konkreten Gegenüber. Oder um Johannes Chrysostomus zu zitieren: "Willst du den Leib Christi ehren? Dann übersieh nicht, dass dieser Leib nackt ist. Ehre den Herrn nicht im Haus der Kirche, während du draußen übersiehst, wo er unter Kälte und Blöße leidet." Wer sind jene, die unter der Kälte und Blöße leiden? Kranke, Männer und Frauen, die dem Druck der Zeit nicht mehr standhalten, konsumterrorisierte, innenweltverschmutzte Kinder, Alleingelassene, Überforderte, Heimat- und Ratlose. Bedürftigkeit ist nicht mehr eine Randerscheinung. Werden wir schwerkrank und pflegebedürftig, holt Armut fast jede, jeden von uns ein. Abhängig von der Gunst anderer werden wir zu Bettlern und drohen überflüssig zu werden. Die Frage ist: Gewinnen die Gesunden, Starken, Selbstgefälligen, Abgesicherten, Verurteilenden die Oberhand oder wollen wir unser Land in einer anderen "Verfassung" sehen? Lassen wir uns verpflichten zum respektvollen Umgang mit den Mitmenschen, Armen, Ausgegrenzten und zur Bereitschaft zum Teilen?
Sind wir bereit, die besondere Herz-Tiefenschärfe-Brille aufzusetzen, die einem Gegenüber, unabhängig, ob es uns sympathisch oder unsymphatisch erscheint, einen göttlichen, guten Kern zumisst? Oder wollen wir zu den heillosen, sicherlich auch enttäuschten Nörglern, Miesmachern, ewig Unzufriedenen, Undankbaren gehören, die nie genug und daher nichts für andere übrig haben? Gott sei Dank gibt es jene andern. Flügellose Heilsbringer des Alltags. Die Dichterin Tina Willms umschreibt sie so: "Sie schauen dir ins Gesicht und fragen dich, was denn ist, ehe du weißt, wie traurig du bist. Sie schwingen sich ein auf die Wellen deiner Ängste, teilen sie und nehmen die Hälfte mit. Begegnest du ihnen, so gehst du anders als vorher, leichter die Schritte, leichter das Herz. "Ich kenne viele von ihnen. Viele still und unscheinbar, andere leidenschaftlich im Einsatz für das Gute und Notwendige. Sie gibt es und gab es immer wieder.
Die Zeitspender sind neben den Geldspendern der größte Schatz der Caritas. Vergelt’s Gott!
Die Texte dieses Impulses stammen aus meinem Buch "Herz-SchrittMacher - Wege der Barmherzigkeit", Tyrolia-Verlag, 2016.
Georg Schärmer, Caritas‐Direktor Tirol, Innsbruck
Publiziert in: Mission MitMensch! Agentinnen und Agenten der Nächstenliebe, Jan. 2020