Kochen mit dem, was im Kühlschrank ist
In welcher Welt wollen wir leben?
Unsere Kinder und Jugendlichen werden unter dem Eindruck zunehmend größerer Unsicherheiten und einem ungleich härteren Wettbewerb groß. Mit den der-zeitigen Modellen und Methoden können wir keine exzellente, umfassende (Aus-)Bildung, keine sicheren Arbeitschancen und keine verlässliche Altersversorgung mehr garantieren.
Unsere Welt ist komplex geworden. Demografischer Wandel, Digitalisierung, Migration, Globalisierung, Sicherung von sozialen Systemen … stellen uns vor Herausforderungen, die mit unserem bisher bekannten Handlungsrepertoire alleine nicht zu bewältigen sind. Dies gilt sowohl für Unternehmen als auch für Entwicklungen in unserer Gesellschaft und Kirche, in der wir schon seit mehreren Jahren so manche Umbrüche und Unsicherheiten erleben. Die Erkenntnis, die Zukunft selbst in die Hand zu nehmen und innovativ zu handeln, scheint eine mögliche Antwort zu sein. Effectuation kann dabei hilfreich sein.
Beim Denken zuhören
Schon 2001 hat Sara D. Sarasvathy (University of Virginia, USA) im Rahmen der Entrepreneur-Forschung mit Hilfe von Entscheidungs- und Denkprotokollen untersucht, wie erfolgreiche Gründer und Unternehmer in ungewissen Situationen handeln. Als Ergebnis entwickelte sie Effectuation als Denk- und Handlungslogik und als Methode unternehmerischer Expertise. Im deutschsprachigen Raum gelten vor allem Michael Faschingbauer und René Mauer als Experten in diesem Bereich.
Puzzle und Patchwork - wir brauchen beides
Effectuation ist eine eigenständige Logik des Entscheidens und Handelns, die Akteure dabei unter-stützt, die Zukunft aktiv zu gestalten, wenn das Umfeld unsicher und eine Planung nicht möglich ist.
Im Leben gibt es selten ein Entweder-oder, sondern meistens ein Sowohl-als-auch
So ist dies auch bei Denkmodellen: Je nach Projektgröße, Zeitpunkt, Kontext oder Vorhersagbarkeit möglicher Entwicklungen ist ein kausales Vorgehen not-wendig. Klassisches Management-Denken ist ziel- und ressourcenorientiert. Häufig sind dabei Ziele, Mittel und Ressourcen vorherbestimmt. Dabei sollen mit optimalen Lösungen Ziele erreicht werden. Kausales Denken ist nicht unbedingt kreativ. Häufig geht es darum, in einem Puzzle, das fehlende Teil zu finden und richtig einzusetzen.
Mit Effectuation startet man ein Projekt nicht mit vor-gegebenen Zielen, sondern mit den zur Verfügung stehenden Mitteln. Dabei geht es darum, wie ein Mensch im HIER und JETZT mit diesen verfügbaren Mitteln Ziele entwickeln, aushandeln und flexibel halten kann. Hieraus können mögliche nächste Schritte entstehen. Dies beinhaltet die Bereitschaft, den Zufall als Chance zu sehen und mögliches Scheitern als wichtigen Informationslieferanten zu erkennen. Hier nähen also Menschen gemeinsam an einem Patchwork-Teppich mit unterschiedlichen und oftmals scheinbar nicht zusammenpassenden Teilen. Ein Beispiel aus dem Alltag verdeutlicht dies:
Wir alle müssen essen, allerdings gibt es unterschiedliche Wege dazu. Schaue ich in den Kühlschrank und kreiere aus dem vorhandenen Angebot eine Mahlzeit oder suche ich ein Rezept, stelle eine Einkaufsliste zusammen, kaufe ein und koche dann mein Essen?
Koche ich nach Rezept (causal thinking) oder schaue ich in den Kühlschrank und koche mit dem, was da ist (Effectuation)?
Effectuation-Prinzipien:
(1) Mittelorientierung statt Zielorientierung: oder kochen mit dem, was im Kühlschrank ist
Kausale Logik bedeutet, Ziele festzulegen und dann Mittel und Wege zu finden, um diese Ziele bestmöglich zu erreichen. Effectuation hingegen beginnt bei den vorhandenen Mitteln und Ressourcen, um daraus Ziele zu generieren.
Alles beginnt also mit dem Blick in den Kühlschrank - auf die eigenen Mittel.
- "Wer bin ich?" (Identität - Werte - Kultur),
- "Was kann ich/was weiß ich?" (Know-how - Wissen - Erfahrung)
- "Wen kenne ich und wen möchte ich zum Kochen einladen?" (Beziehungen - Netzwerke).
Danach wird nachgedacht, was sich mit diesen Zutaten kochen lässt.
(2) Prinzip des potenziellen leistbaren Verlustes
Entscheidungen orientieren sich am leistbaren Einsatz oder Verlust und haben damit auch ein mögliches Scheitern im Blick. Dabei geht es u.a. um finanzielle und zeitliche Ressourcen, um persönliche Energien und Ideen sowie Entscheidungsspielräume oder Reputation.
(3) Umstände und Zufälle nutzen statt vermeiden
Nach kausaler Logik gilt es, Risiken zu minimieren und den Zufall auszuschließen. Effectuation nutzt zufällige, unerwartete Begebenheiten als Chance und wichtige Informationsquellen, um eigene Ideen und Vorhaben anzupassen, weiterzuentwickeln oder zu co-kreieren. Berühmtes Beispiel ist die Erfindung des Post-it.
(4) Partnerschaften statt Konkurrenz
Wenn Menschen die Zukunft eines Unternehmens, einer Organisation oder einer Pfarre gestalten, sind sie auf das Mitwirken anderer angewiesen. Doch wie gehen sie dabei vor? Kausale Logik unterscheidet zwischen "den richtigen Partnern" und grenzt sich gegen potenzielle Konkurrenz ab. Effectuation bedeutet, Partnerschaften mit denen einzugehen, die sich schon früh an einem noch unsicheren Vorhaben beteiligen. Der Austausch mit einer Vielzahl an Akteuren ist wichtig, bestehende Partnerschaften sind ebenso im Blick wie neue Allianzen.
Prozessgestaltung und Werkzeuge
Damit wir Effectuation anwenden können, brauchen wir einen handlungsleitenden Prozess, den wir durch einen Handlungsanlass in Gang setzen. Das kann ein Problem, ein Missstand, geänderte Rahmenbedingungen, eine Idee u.v.m. sein.
Mit dem Blick in den Kühlschrank beschäftigen wir uns mit den Fragen "wer bin ich?" - "was weiß ich?"- "wen kenne ich?" und "was können wir sofort tun?" jeweils in Bezug auf den aktuellen Handlungsanlass.
Wir veröffentlichen mitunter noch unsichere und unausgereifte Vorstellungen und Ideen, um andere zu finden, die schon sehr früh ins Boot kommen und et-was von ihren Mitteln einbringen wollen. So können wir unseren eigenen Kühlschrank mit den Mitteln anderer füllen und weiter auf Kurs bleiben. Daneben werden wir auch Vereinbarungen eingehen, um Ziele und Vorgehensweisen zu konkretisieren.
Inwiefern lässt sich nun der Prozess dieser Denk- und Handlungslogik auf den Alltag in einer Pfarre übertragen?
Eine spannende Frage, die angesichts der vielen Ressourcen in pfarrlichen Systemen zu durchaus bemerkenswerten Ergebnissen führen kann. Anhand eines konkreten Beispiels aus meiner Praxis möchte ich im Folgenden ein paar hilfreiche Werkzeuge und Prozesselemente näher vorstellen.
Einsatz in der Ehrenamtsarbeit
Angesichts der vielfältigen Strukturprozesse in unseren Pfarren verändern sich auch Aufgaben und Rollen für ehrenamtliche MitarbeiterInnen. Dies löst Unsicherheiten und offene Fragen aus.
In einem Workshop laden wir haupt- und ehrenamtliche MitarbeiterInnen zum "Marktplatz der Macher" ein, der dem bereits beschriebenen Effectuation-Prozess nachempfunden ist.
Komm mit auf den "Marktplatz der Macher"! - eine Workshop-Idee
Hier treffen sich Menschen mit Handlungsanlässen, um miteinander Schnellboote zu vereinbaren. Diese stehen für gewisse Vorhaben und haben einen sogenannten Captain, der eine Führungskraft oder ein/e ehren- oder hauptamtliche/r MitarbeiterIn sein kann. Dieser schickt das Boot gemeinsam mit seiner Crew auf den Weg.
1) Ausgangspunkt ist ein Handlungsanlass
- die "NEEDS-WALL": Anhand der Needs-Wall sammeln wir aktuelle Herausforderungen, Bedürfnisse und Probleme der Ehren-amtlichen in Bezug auf veränderte Strukturen und Rahmenbedingungen in den Pfarren und formulieren daraus den Handlungsbedarf.
2) Mittelanalyse
- "Mittelboard" und "Stärkenliste": Um nun einen Schritt weiterzugehen, schauen wir zu-erst einmal in den eigenen Kühlschrank und gehen unseren jeweils eigenen Mitteln und Stärken nach. Dabei kann ein sogenanntes "Mittelboard" (Wer bin ich? - Was kann ich? - Wen kenne ich?) und eine "Stärkenliste" für Entscheidungen sehr hilfreich sein.
3) Entwickeln individueller Handlungsoptionen
- Schnellboot-Ideen: Daneben ist es wichtig, individuelle Handlungsoptionen zu entwickeln und erste Rahmenbedingungen für mögliche Ideen und Vorhaben zu klären. (Welche drei Dinge könnte ich mit meinen Mitteln starten?)
4) "Dialoge am Marktplatz"
In unterschiedlichen Dialogen am Marktplatz werden die verschiedenen Schnellboot-Ideen ausgetauscht. Zudem geht es darum, den anderen für die jeweils eigene Idee zu gewinnen und zu überlegen, was gemeinsam co-kreiert werden könnte.
5) Schnellboote konkretisieren
- "Bootstaufe": Nun formulieren wir Schnellboote: Namen; Vorhaben; Captain; Crew; die ersten Schritte. Hier sei angemerkt, dass Schnellboote keine Containerschiffe sind. Sie dienen dazu, aus einer Haltung des "Wir sollten doch …!" in ein konkretes Handeln zu kommen und aktiv "das Gewässer" zu prüfen. Für das "Anheuern" auf einem Schnellboot als Crewmitglied ist immer der eigene Handlungsimpuls ausschlaggebend. Werden wir von anderen in ein Schnellboot eingeladen, so braucht es ein deutliches JA. Ziel ist die Co-Kreation.
6) "In See stechen"
Haben die Schnellboote ihren Captain und ihre Crew, starten sie. Dabei geht es darum, welche Mittel zur Verfügung stehen, welche Verluste als leistbar eingestuft und welche ersten Schritte vereinbart werden.
Nach intensivem Arbeiten, tollen Ideen und einigen Schnellbooten, die ein weites Feld abdeckten und nach dem Workshop auf den Weg geschickt wurden, ist es wichtig, den weiteren Prozess zu moderieren. Ein Folgeworkshop dient dem Prozess-Monitoring und der Unterstützung für die Captains, indem gemeinsam aus gescheiterten "Schnellbooten" gelernt und aus erfolgreichen Booten strategische Projekte abgeleitet werden.
In welcher Welt wollen wir leben?
Erhalten wir durch Effectuation mögliche Antworten?
Unsere Gesellschaft und Kirche braucht einen Perspektivenwechsel. Neben Demokratie und Menschen-rechten, die den Zusammenhalt einer Gesellschaft sichern, sind auch wir als Kirche gefordert, die Komplexität zu managen und dabei das Verbindende nicht aus den Augen zu verlieren. Dafür braucht es Räume, in denen man ausprobieren und scheitern darf. Räume des gemeinsamen Lernens und des Vertrauens.
Effectuation kann uns Räume eröffnen, in denen das NEUE in die Welt kommen kann. Denn "unsere Kirche hat dann Vorbildcharakter, wenn sie soziale Grenzen bewusst überschreitet, Hilfe gestaltet und nicht nur eigene Traditionen verwaltet: identitätsstark im Blick auf das Eigene und wertschätzend im Blick auf das Fremde".
Über die Autorin:
Ingrid Böhler studierte Germanistik und Erziehungswissenschaften. Sie ist Erwachsenenbildnerin,
Dipl. Trainerin für prozessorientierte Gruppenarbeit,
Einzel-, Paar- und Familienberaterin und Leiterin des Fachbereichs Pfarrcaritas & sozialräumliches Handeln in der Caritas Vorarlberg.
Weiterführende Literatur:
Faschingbauer, Michael (2013): Effectuation. Wie erfolgreiche Unternehmer denken, entscheiden und handeln. Schäffer-Poeschel.
Gigerenzer, Gerd (2013): Risiko. Wie man richtige Entscheidungen trifft. Bertelsmann.
Taleb, Nassim Nicholas (2013): Antifragilität: Anleitung für eine Welt, die wir nicht verstehen. Knaus.
Gmelch, Michael (2016): Refugees welcome: Eine Herausforderung für Christen. Echter.
www.effectuation.at
www.effectuation.org