Loslassen
Eine überlieferte Version des Wunders erzählt:
"Eines Tages brachte Elisabeth von Thüringen heimlich Brot zu den Armen, verborgen unter ihrem Mantel. Ihr Ehemann, Landgraf Ludwig, begegnete ihr und fragte, was sie bei sich trage. Als sie den Mantel öffnete, verwandelte sich das Brot in Rosen - ein Zeichen des Himmels für ihre Barmherzigkeit und ihren tiefen Glauben."
So wuchs in mir früh die Vorstellung: Wer Gutes tut, besonders für die Bedürftigen, wird getragen - ja, sogar beschützt - selbst wenn das eigene Umfeld Unverständnis zeigt. Neben Elisabeth waren es auch der Heilige Martin, der seinen Mantel mit einem Bettler teilte, und der Heilige Nikolaus, der für verwaiste Kinder drei goldene Kugeln auf eine Fensterbank legte, die mir als Kind das Bild christlicher Nächstenliebe vor Augen führten. Die Hoffnung: Jemand, der Gutes tut, sollte geschützt werden und erleben dürfen, dass das Gute, das er oder sie tut, Gutes bewirkt. Dieser Gedanke lebt bis heute in mir weiter.
Und doch: Aus Sicht der Geschichtsforschung ist das Rosenwunder wohl eine Legende, nach Elisabeths Tod und ihrer Heiligsprechung auf sie übertragen. Die in der Legende geschilderte Szene mit ihrem Ehemann ist eher unwahrscheinlich - zu innig war ihre Beziehung, zu liebevoll ihr Umgang. Überliefert ist vielmehr, dass Elisabeth ihren Mann zwei Tage auf seinem Weg in den Kreuzzug begleitete. Sie wollte sich nicht von ihm trennen. Als sie später vom Tod Ludwigs erfuhr - er starb noch bevor er das Heilige Land erreichte - rief sie aus: "Mit ihm ist mir die Welt gestorben."
Elisabeth musste loslassen - nicht nur einen geliebten Menschen, sondern auch einen vertrauten Lebensweg. Diese Erfahrung prägt ihre Lebensgeschichte zutiefst. In diesem Schmerz steht sie vielen Menschen nahe, die Ähnliches durchleben. Ihre Liebe blieb, und sie wuchs weiter - nun ganz den Armen und Schwachen zugewandt.
Auf dem Titelbild dieses Elisabethbriefes ist ein Fenster aus der Elisabethkapelle des Naumburger Doms zu sehen. Im Dezember 2007 wurden dort drei neue Elisabethfenster des Künstlers Neo Rauch eingeweiht. Eine der Szenen trägt den Titel "Abschied" - sie zeigt den Moment des Auseinandergehens zwischen Elisabeth und Ludwig.
Selten wird diese Szene bildlich dargestellt. Und doch liegt in ihr eine tiefe, stille Kraft. Etwas Schicksalhaftes. Noch ist Nähe spürbar, ein letzter Blick, ein letzter Halt - und zugleich ist das Loslassen schon gegenwärtig, eingezeichnet in die Körperhaltungen, die Blickrichtungen, die Bewegung der Szene. Man möchte die Zeit anhalten. Wäre nicht auch ein anderes Ende möglich? Doch das Leben geht weiter - und mit ihm die Frage: Wie? Wohin? Vielleicht zeigt die nachdenklich an den Kopf geführte Hand von Elisabeth diese Richtungssuche an. Wo finde ich neuen Halt, neue Lebensheimat?
Diese Fragen erinnern mich an jene des Apostels Thomas, als Jesus seinen Hinübergang ankündigt. Thomas fragt: "Herr, wir wissen nicht, wohin du gehst - wie sollen wir den Weg kennen?" (Joh 14,5). Jesus antwortet: "Ich bin der Weg und die Wahrheit und das Leben" (Joh 14,6). In freier Übersetzung würde ich so schreiben: Hab Vertrauen, geh weiter - ich gehe mit. Du wirst deinen Weg finden. Und du wirst das vollbringen, was nur du vollbringen kannst (vgl. Joh 14,6.12).
Ist das Rauch-Fenster mit dem Titel "Abschied" eine ungewohnte Darstellung für einen Elisabethbrief? Vielleicht. Und doch spiegelt es eine Realität, die alle Menschen irgendwann erleben: Abschied. Loslassen. Während im Rosenwunder durch ein himmlisches Zeichen ein glücklicher Ausgang geschieht, bleibt das Loslassen im Raum stehen - schmerzhaft, offen. Ist auch hier Wandlung möglich? Elisabeth fand ihren Weg - sie lebte radikale Nächstenliebe, mit innerer Kraft. Auch der Apostel Thomas fand seinen Weg - er wurde zum Glaubensboten für Indien.
Viele Jahre hing in meiner Küche eine Karte mit einem Satz, den mir ein alter Fußballfreund schenkte:
"Festhalten kann ich seit meiner Geburt - loslassen muss ich lernen." Wie viele Menschen, denen wir in unserem ehrenamtlichen Dienst begegnen, müssen loslassen - Stück für Stück, manches schnell und leicht, anderes lang und schwer. Können wir ihnen auch dabei zur Seite stehen? Vielleicht sogar gemeinsam mit ihnen lernen? Dann wäre Loslassen nicht nur Verlust - sondern ein Schritt zu neuer Lebendigkeit. Wäre so Wandlung möglich, die neue Perspektiven und neue Freude schenkt?
Ich wünsche Ihnen für Ihr Engagement vor Ort segensreiche Begegnungen, die Kraft, Gutes zu bewirken, und eine Herzlichkeit, die mitgeht, besonders dort, wo Menschen loslassen müssen und eine neue Hoffnung suchen.
Dr. Thomas Stühlmeyer
Geistlicher Begleiter für die CKD Bundesebene