Wir können auch anders!
Freiwilliges Engagement im Wandel
Schon seit einigen Jahrzehnten spricht die Freiwilligenforschung unter dem Stichwort "neues Ehrenamt" von einem Gestaltwandel des freiwilligen Engagements.1
Die gesellschaftlichen Megatrends wie die Individualisierung und Pluralisierung von Lebenswelten und der zunehmende Freiheitszuwachs verändern die Engagementbereitschaft und -praxis der Menschen. Das wirkt auf das klassische Ehrenamt zurück. Anders, als man vermuten könnte, tut dies dem sozialverant-wortlichen Handeln in Deutschland keinen Abbruch - im Gegenteil: Der Anteil der insgesamt engagierten Personen ist nach Angaben des Freiwilligensurveys 2014 gegenüber 1999 um fast zehn Prozentpunkte auf über 43 Prozent gestiegen.2
Während allerdings die Zahl derjenigen zunimmt, die sich überhaupt engagieren, sinken insgesamt die Dauer und Häufigkeit, mit denen ein Engagement ausgeübt wird. Die Freude an der Tätigkeit ist mittlerweile der wichtigste Motivator für die Übernahme eines Engagements.
Nicht nur Neues fördern, sondern dies auch über seine Netzwerke hinaus sichtbar machen
In vielen kirchlichen Gemeinden und Einrichtungen gehört es darum heute zum guten Ton, zu einer Transformation der bestehenden Ehrenamtsstrukturen zugunsten fluider, niedrigschwelliger Engage-mentformen aufzurufen, die die Vorlieben und Fähigkeiten der Engagierten ernst nehmen - zum Glück! Vielfach stehen sie aber vor einer doppelten Herausforderung: Wie können die neu gewonnenen Ideale in reale Engagementformen übersetzt werden? Und wie kann man diese Innovationsbereitschaft nach außen hin kommunizieren? Beides ist nötig. Denn zum einen sind junge Menschen zunehmend nur dann dazu bereit, ein Engagement zu übernehmen, wenn es lebensweltlich und biografisch passt. Zum anderen hat die Kommunikationswissenschaft inzwischen als Grundsatz des Kommunikationsverhaltens vieler Menschen erkannt: "Nur eine Information, die mich erreicht, ist auch relevant" (Stichwort: Filterblase). Wer also für aktives und politisch wirksames Engagement steht, muss Innovationsfähigkeit fördern und Innovationsbereitschaft kommunizieren. Woher aber Kraft und Ideen nehmen, um aus festgefahrenen Strukturen auszubrechen? Und wie diesen Ausbruch bekannt machen?
Zu lang gepflegte Routinen machen betriebsblind und erschweren notwendige Innovationen
Ein wesentlicher Schritt in Richtung Beantwortung dieser Fragen ist getan, wenn man anerkennt, dass man selbst und die Organisation, in der man arbeitet, diese Fragen nicht eigenbrötlerisch beantworten können. Menschen wie Organisationen neigen dazu, das Wissen zur erfolgreichen Lösung von Problemsituationen zu konservieren und die damit verbundenen Handlungsabläufe als Routinen zu verstetigen. So weit, so nachvollziehbar: Das Rad nicht immer wieder neu zu erfinden, garantiert Stabilität und Effizienz. Heikel wird dieser Hang zum lokalen Wissen allerdings - man spricht auch vom "Local Search Bias" -, wenn bisher unbekannte Problemkonstellationen auftreten. Wer zur Weiterentwicklung des Ehrenamts nur in Routinen denkt, wird bald merken, dass sie oder er aus der Routine so einfach nicht herauskommt.
Mit Open Innovation dem Wandel begegnen
Auf dieses Problem reagiert die Idee der Open Innovation. Ihr Clou liegt darin, dass die für die Lösung von Problemen erforderlichen Informationen nicht mehr allein organisationsintern, sondern in einem Netzwerk vielfältiger Akteur*innen (beispielsweise Nutzer*innen oder Expert*innen aus Wissenschaft und Gesellschaft) gesucht wird. Sie inspiriert so zu einer interaktiven Generierung pfadabweichender Ideen.
Doppelt gut für das Ehrenamt
Die Idee der Open Innovation3 ist für die Entwicklung und Kommunikation moderner Freiwilligenarbeit hochinteressant, weil sie der oben identifizierten doppelten Herausforderung begegnet. Denn erstens bietet die Open Innovation eine Methode, um aus festgefahrenen Strukturen - auch des Engagements - auszubrechen, indem gerade das Wissen genau derjenigen aktiviert wird, auf die hin die neuen Engagementformen innoviert werden sollen. Potenzielle Engagierte werden zu Innovationspartner*innen, die durch ihren kreativen Input zur Weiterentwicklung des Engagements beitragen. Das erhöht die Spannweite der Ideen- und Lösungsfindung erheblich.
Ein Ideenwettbewerb auf Gemeindeebene: Ideal für neue, externe Ideen und ein innovatives Image in der Öffentlichkeit
Als ein erfolgreiches Tool haben sich dafür zum Beispiel Ideenwettbewerbe bewährt. Schreibt eine Gemeinde einen Ideenwettbewerb aus, schafft sie eine Plattform, mit Hilfe derer die Kreativität zahlreicher Akteur*innen angeregt und für die Innovation des Ehrenamts gebündelt werden kann. Zweitens trägt die Open Innovation auch einer erhöhten Aufmerksamkeit für die Öffentlichkeitsarbeit (Public Relations) Rechnung. Das Innovationsgeschehen bleibt nicht intern. Es wird - im Gegenteil - "in Form eines offenen Aufrufs zur Mitwirkung"4 geweitet und publik gemacht. Ein Caritasverband, der im Rahmen einer Kampagne dazu aufruft, sich an der Weiterentwicklung des Engagements zu beteiligen, kommuniziert darum nicht seine Ideenlosigkeit, sondern Innovationsbereitschaft. Die öffentlichkeits-wirksame Kommunikation der eigenen Suchbewegung macht so den Möglichkeitsraum des freiwilligen Engagements auch für diejenigen transparent, die sich von den üblichen Ehrenämtern nicht angesprochen fühlen.
Neuen Freiwilligen Raum und Möglichkeiten geben, neue Formate zu schaffen und zu beleben
Die Entwicklung des freiwilligen Engagements ist eine Zukunftsaufgabe. Unzählige Menschen - junge und alte - bilden als Engagierte das Rückgrat kirchlicher und kirchennaher Organisationen. Sie dürfen darum kein Schattendasein führen.
- Das tun sie, wenn ihre Präferenzen und Fähigkeiten den Strukturen untergeordnet werden.
- Das tun sie auch, wenn neben das - nach wie vor legitime - klassische Ehrenamt keine Formate treten, die ein episodales, themenbezogenes Engagement zulassen.
Die Anliegen vieler (potenzieller) Engagierter bleiben dann unberücksichtigt. Um Engagement aktiv und politisch wirksam zu gestalten, muss es stattdessen von denen gedacht werden, die es (be-)leben.
Kreativität der vielen und Mut der wenigen
Dazu braucht es die Kreativität der vielen und den Mut der wenigen, die eigene Innovationsbedürftigkeit als Stärke zu verstehen. Ideenwettbewerbe sind nicht die einzige Form, dies zu tun.5 Einzelgängertum zu meiden und den Kreis der Lösungssuchenden zu öffnen ist das, worauf es ankommt. Das heißt auch, Engagierte nicht nur als tatkräftige Helfer*innen zu verstehen, sondern ihr Innovationspotenzial zu stimulieren.
Freiwilligenarbeit wird zum Powerhouse
Dann können wir auch anders! Auf diese Weise werden die Ideen derjenigen, die sich engagieren, und derjenigen, die es (noch) nicht tun, zu kräftigen Motoren und vitalen Impulsen für eine (kirchliche) Organisation, die verstanden hat, dass die Zukunft des Engagements nicht allein in der Vergangenheit liegt, sondern im Experiment einer gemeinsamen Suche nach einer zukunftsfähigen Vision. Die Freiwilligenarbeit wird so zum Powerhouse, in dem sich der schöpferische und emanzipatorische Anspruch dessen einlöst, was wir theologisch mit Charismenorientierung, Co-Kreation und Partizipation umschreiben.
1 Vgl. zum Beispiel Thomas Rauschenbach: Gibt es ein "neues Ehrenamt"? Zum Stellenwert des Ehrenamtes in einem modernen System sozialer Dienste. In: Sozialpädagogik, 33/1 (1991), S. 2-10, https://nbn-resolving.org/urn:nbn:de:0168-ssoar-39053, abgerufen am 09.10.2020.
2 Vgl. Claudia Vogel/Christine Hagen/Julia Simonson/Clemens Tesch-Römer: Freiwilliges Engagement und öffentliche gemeinschaftliche Aktivität. In: Clemens Tesch-Römer/Claudia Vogel/Julia Simonson (Hgg.): Freiwilliges Engagement in Deutschland. Der Deutsche Freiwilligensurvey 2014. Wiesbaden 2017, S. 91-123, hier S. 98.
Das kann auch mal gelingen. Großflächige Innovationsschübe lassen sich aber nicht erhoffen. Das führt zu einer paradoxen Situation: Die oftmals hohe Bereitschaft zur Innovation von Engagementstrukturen steht nicht selten einer realen, nur eingeschränkten Innovationsfähigkeit gegenüber.
3 Vgl. dazu umfassend Frank Piller/Kathrin Möslein/Christoph Ihl/Ralf Reichwald: Interaktive Wertschöpfung kompakt. Open Innovation, Individualisierung und neue Formen der Arbeitsteilung (Lehrbuch), Wiesbaden, 2017.
4 in dem bereits angeführten Buch S. 60.
5 Geeignet sind unter anderem auch Workshop-Formate (vgl. Fabian Schroth/Hannah Glatte: Zwischen Design und Zukunftsforschung. Ein Workshop zur Entwicklung von Ideen für soziale Innovation. In: Zeitschrift für Zukunftsforschung 6/1, 2017, S. 5-17).
Autor: Björn Szymanowski
Die Urheberrechte dieses Textes liegen beim Autor.
Publiziert in: Ehrenamt setzt sich ein! Sozial aktiv - politisch wirksam, Jan. 2021