Das Soziale in der Digitalen Transformation
Leben mit undurchschaubaren Algorithmen?
Die Digitalisierung hat unseren Alltag verändert, schleichend und lebensweltlich, zugleich tiefgreifend und radikal. Längst geht es nicht mehr nur um das Smartphone, das uns zu digitalen Nomad(inn)en macht - mit unbegrenztem Zugang zu Datenoasen weltweit: Die Wetterinformationen vom Urlaubsort sind überall und jederzeit abrufbar, ebenso wie der Finanzstatus des Bankdepots und (mindestens in den USA) auch genetische Fingerabdrücke, die problemlos die Suche nach unbekannten Familienangehörigen ermöglichen. Digitalisierung ist als Prozess der Einführung und Durchsetzung rechnender Maschinen in soziale Praktiken aller Art zu verstehen. Und diese Maschinen verfügen mit den Algorithmen, die ihnen Leben einhauchen, über eigenständige Entscheidungsfähigkeit. Jede denkbare Kommunikation kann mit Eingaben an und Ausgaben durch Maschinen kombiniert werden; die Datenspeicher, Vernetzungen und Algorithmen der digitalen Assistenten sind für die Menschen, die auf ihre Ein- und Ausgaben angewiesen sind, in der Regel undurchschaubar und zugleich für viele Alltagsbelange bald als "vorgegeben" vorauszusetzen.
Kann man im Privaten die Ergebnisse einer Suchmaschine oder die Gefolgschaft durch einen "Follower" in den sozialen Medien (wie Facebook oder WhatsApp) noch vergleichsweise gefahrlos ablehnen, so ist das im beruflich-ehrenamtlichen Umfeld bereits anders. Es befindet sich "die Ärztin vor ihren Monitoren, der Architekt mit seinen Ergebnissen einer Statikberechnung oder die Soldatin mit ihrer Datenbrille nicht in einer so komfortablen Situation". Sie müssen oft unter hohem Zeitdruck Informationen annehmen und Entscheidungen treffen, ohne Quelle und Qualität der Daten über-prüfen zu können. Dirk Baecker spricht daher von einem "Kontrollüberschuss der Computer und ihrer Netzwerke", dem wir uns ausgeliefert sehen und der das soziale Miteinander grundlegend verändert.1
Das Soziale im Digitalen verankern
Es lohnt dringend, über das Soziale in der digitalen Transformation zu sprechen und den Digitalisierungs-Diskurs nicht länger auf "Industrie 4.0" und "Künstliche Intelligenz" zu verengen. Unter der Überschrift "Wohlfahrt 4.0" zeichnen sich drei Dimensionen ab, unter denen das Sozial(-politische) durch die digitale Transformation herausgefordert wird:
- Es entstehen neue Anforderungen an die Soziale Sicherheit im Lebenslauf.
- Soziale Infrastruktur - von der Kita bis zum Pflegedienst - braucht einen Relaunch, um ihre Leistungen in hybriden Sozialräumen "nah bei den Nächsten" vorzuhalten.
- Es geht um die Entdeckung von Netzpolitik als Aufgabe der Sozialpolitik.
Soziale Sicherheit 4.0
Unser Sozialversicherungssystem ist entstanden und optimiert unter den Bedingungen einer fortgeschrittenen Industriegesellschaft, in der soziale Sicherheit wesentlich über das abhängige Erwerbsverhältnis (der männlichen Industriearbeiter) organisiert wurde. Durch die digitale Transformation verschieben sich - mit der Plattformisierung der Arbeit - wesentliche Grundlagen der sozialen Sicherheit. Erwerbsarbeit verlässt den Betrieb, Online-Intermediäre vermitteln auf der Grundlage neuer Rechtskonstrukte zwischen Arbeitsangebot und -nachfrage; mit dem klassischen Arbeitsvertrag haben diese meist nur noch wenig Ähnlichkeit. Gigworker, Cloudworker und Freelancer sind Erwerbstätige, die - nicht selten neben einer abhängigen (Teilzeit-) Beschäftigung - ihre Arbeitskraft über Plattformen anbieten: bei Uber als selbstständige "Taxifahrer", bei Foodora als Essenskuriere auf Honorarbasis oder bei Mechanical Turk als digitale Tagelöhner(innen).
Das Lebenserwerbseinkommen einer größer werden-den Zahl von Menschen setzt sich inzwischen zusammen aus Lohneinkommen einerseits, Einkommen aus "neuer Selbstständigkeit" andererseits. Beitrags-pflichtig zur Sozialversicherung sind die plattformgestützten Einkommen typischerweise nicht - ebenso wenig wie sie einer adäquaten Besteuerung unterliegen. Kleiner werdende Teile des Erwerbseinkommens aus abhängiger Beschäftigung tragen nun allein die Finanzierungslast des Sozialstaats, größer werdende Teile des Lebenseinkommens aus hybrider Selbstständigkeit fallen als Quelle für die soziale Sicherung aus. Die darin aufscheinenden Verletzlichkeiten des Sozialstaats, die neuen Unsicherheits- und Armutsrisiken machen die Einbeziehung aller Erwerbseinkommen in die Sozialversicherung dringlich nötig und zu einer ersten Forderung an die digital-soziale Marktwirtschaft.2
Soziale Infrastruktur
Die Anzahl der Stunden, die Menschen online verbringen, steigt rasant. Bei den 18- bis 34-Jährigen sind es ausweislich der neuen Postbank-Digitalstudie 58 Wochenstunden, bei den über 35-Jährigen immerhin 42, und damit mehr als fünf Stunden am Tag. Längst können wir zwischen der online und analog verbrachten Lebenszeit kaum noch unterscheiden, der Blick auf Tripadvisor gehört zum Urlaub genauso selbstverständlich dazu wie der ihm folgende Restaurantbesuch; während wir real S-Bahn fahren, verfolgen wir die Strecke und die Verspätungsnachrichten auf dem Smartphone und checken parallel unsere WhatsApp-Nachrichten. Wir leben in "hybriden Sozialräumen"3. Das lässt die Gestaltung sozialer Infrastruktur nicht unberührt, denn sie muss die Menschen dort erreichen, wo sie sind und Hilfe suchen. Mit dem Projekt [U25] hat der Caritasverband übersetzt, was das heißt: Wenn suizidgefährdete Jugendliche Rat und Hilfe online suchen, dann ist das digitale Ehrenamt gleichaltriger junger Menschen eine passgenaue Antwort. Sie treffen die lebensmüden Altersgenoss(inn)en virtuell, um ihnen online ganz real neuen Lebensmut zu geben. Die Schwelle einer Face-to-face-Beratungsstelle würden die Jugendlichen, um die es hier geht, ohne die Peer-to-Peer-Begegnung im Netz wohl kaum übertreten.
Smarte Alltagsbegleiter, von Alexa bis Google Assistant, werden zu Mitgestaltern des sozialen Dienstleistungsangebots - mit einem Geschäftsmodell, das auf umfassender Datennutzung beruht. Das Dienstleistungsverständnis der Wohlfahrtspflege hingegen beruht auf Datensparsamkeit und Datensouveränität und setzt auf Solidarität dort, wo die GAFA4 auf maximale Individualisierung zielen. Zur Frage, wie sehr wir personenbezogene soziale Dienstleistungen aus dem Bereich der Gemeinwohlorientierung entlassen wollen, kommt die Frage hinzu, wie wir perspektivisch die Einheitlichkeit der Lebensverhältnisse gewährleisten können, wenn die Zugänglichkeit des Internets faktisch über die Zugänglichkeit von alltäglich wichtigen Dienstleistungen entscheidet - von der ambulanten Pflege bis zur Telemedizin. Die Gleichwertigkeit der sozialen Infrastruktur setzt die digitale Leistungsfähigkeit der Daseinsvorsorge voraus. Für die Träger sozialer Infrastrukturangebote kommt die Herausforderung hinzu, die mit der Digitalisierung verbundenen Veränderungen in den sozialen Dienstleistungen zu gestalten - seien sie nun haupt- oder ehrenamtlich erbracht. Soziale Dienstleistungen werden nicht selten zu Übersetzungsleistungen zwischen Mensch und Maschine5, was neue Anforderungen an Selbstverständnis und Weiterbildung derer stellt, die die Leistung erbringen.
Nicht nur der junge Sozialarbeiter, auch die Seniorin, die sich als Freiwillige in der Bahnhofsmission engagiert, wird über kurz oder lang mit Bahn-App und anderen Digi-Tools souverän umgehen wollen, um ihr Ehrenamt ausfüllen zu können. Digital berührt sozial!
Für den Caritasverband ist darüber hinaus unübersehbar: Die digitale Transformation ist verbunden mit der Entstehung neuer Diskriminierungsrisiken aufgrund der Datennutzung durch Dritte. Sozialpolitik kann daher Fragen von Teilhabegerechtigkeit nicht mehr beantworten, wenn sie sich nicht weitet: Netzpolitik ist Sozialpolitik! Themen, um die es geht, sind Digitale Mündigkeit und Datensouveränität ebenso wie Datensicherheit und Datenschutz, Netzneutralität und Verbraucherschutz im Internet. Unser anwaltschaftliches Engagement, in dem wir uns hohe Kompetenz in den Sozialgesetzbüchern angeeignet haben, erfährt thematische Verbreiterungen, und wir werden mit den Computerfreaks des Chaos Computer Clubs ebenso zusammenarbeiten müssen wie mit den Digi-Expert(inn)en im Verbraucherschutz, wenn wir nach-haltig die Teilhabechancen derer sichern wollen, die von Ausgrenzung und Diskriminierung bedroht sind.
Schon im September 2017 konstatierte die gemein-sam von den Spitzenverbänden der Freien Wohlfahrtspflege und dem Bundesfamilienministerium vor-gelegte Erklärung zur digitalen Transformation6: "Um den gesellschaftlichen Zusammenhalt in Zeiten der Digitalisierung zu stärken, sind die Verbände der Freien Wohlfahrtspflege vielfältig gefordert. Sie müssen mit ihrer seismographischen Kompetenz gesellschaftliche Wirkungen der digitalen Transformation6 früh erkennen. Zugleich sind sie Akteure, die die digitale Transformation aktiv und am sozialen Ausgleich orientiert mitgestalten.
Sie können die teilhabeorientierte Nutzung der digitalen Chancen fördern, gesellschaftliche Randgruppen einbinden und helfen, neue soziale Problemlagen, die durch ,digital gaps‘ entstehen, zu bewältigen. Dazu müssen sie in ihrer Arbeitsweise, ihren Angeboten und in ihren Strukturen die digitalen Möglichkeiten kompetent, dienstleistungsorientiert und sicher nutzen. Sie sind Initiatoren von zivilgesellschaftlichen Dialogen und für gesellschaftlichen Zusammenhalt in hybriden Sozialräumen." Die Caritas und ihre Fachverbände mobilisieren dafür auf allen Ebenen Energien und setzen auf einen "Digitalpakt" mit der Politik. Diese muss erkennen, dass die digitale Transformation der sozialen Arbeit ähnlicher Anstrengungen, Kompetenzen und Ressourcen bedarf wie die Digitalisierung der Industrie, für die längst sehr großzügig Fördermittel bereitgestellt werden.
Quellenhinweise:
1Dirk Baecker (2016): Digitalisierung als Kontrollüberschuss von Sinn. Frankfurt, S. 12.
2Eva M. Welskop-Deffaa: Hybride Erwerbs- und Lebensverläufe und ihre Absicherung in der gesetzlichen Rentenversicherung. In: Lange, Joachim / Rust, Ursula (Hrsg.)(2017), Alterssicherung für Soloselbstständige in Zeiten der Digitalisierung. Rehburg-Loccum, S. 245-255.
3Meine, Jonas: Hybride Sozialräume durch digitale Netzwerk-strukturen im Stadtquartier. In: Hagemann, Tim (Hrsg. (2017)): Gestaltung des Sozial- und Gesundheitswesens im Zeitalter von Digitalisierung und technischer Assistenz. Baden-Baden, S. 21-34.
4GAFA = Google, Apple, Facebook, Amazon
5Gillen, Erny: Pflegeausbildung im Zeitalter autonomer und intelligenter Systeme. In: neue caritas, Heft 9/2018.
6Das Papier zur "Strategischen Partnerschaft Digitalisierung von BAGFW und BMFSFJ" zur Digitalisierung findet sich unter www.bagfw.de.