Du bewegst Kirche
Die Corona-Pandemie zeigt wie durch ein Brennglas: Kirchengemeinden, kirchliche Einrichtungen, Verbände und Gruppen, die in den letzten Jahren ehrenamtliches Engagement auf vielen Ebenen klug und mutig gestärkt haben, waren während des Lockdowns meist handlungsfähiger, da sie ortsbezogen auf funktionierende Netzwerke zurückgreifen und verschiedene Fähigkeiten bündeln konnten.
An dieser Stelle wird klar, dass das Subsidiaritätsprinzip ein grundlegendes Strukturprinzip der Kirche selbst ist. Es besagt, dass eine größere soziale Einheit eine Aufgabe nur dann an sich ziehen darf, wenn kleinere Einheiten bis hinunter zu den Einzelnen nicht in der Lage sind, sie in eigener Verantwortung gut zu bewältigen. Mit diesem Grundprinzip macht die Kirche deutlich, dass sie Vertrauen in die verantwortete Freiheit jedes Menschen setzt, was auch der christlichen Vorstellung vom Menschen als Person entspricht.
Damit kommen zwei wichtige Perspektiven ins Spiel, die mir insbesondere mit Blick auf das Ehrenamt relevant erscheinen. Der Gedanke der Subsidiarität umfasst ein Hilfestellungsgebot und ein Kompetenzanmaßungsverbot. Konkret bedeutet dies, dass ehrenamtliche Arbeit nicht top-down von Hauptamtlichen organisiert und in diese Bereiche "reinregiert" wird, sondern Menschen in kirchlichen Einrichtungen etc. vor Ort mit den nötigen Ressourcen und Freiheiten ausstattet werden, damit sie in eigener Verantwortung tätig werden können. Dabei müssen sie um alle Unterstützungsmöglichketen wissen, die ihnen gemäß der subsidiären Logik auch institutionell zur Verfügung stehen sollten. Es geht um eine Perspektive der Befähigung und eben nicht um die Bewahrung institutionell verordneter Engagementformen.
Caritative ehrenamtliche Arbeit ist nicht bloß nice to have, sondern integraler Bestandteil einer Kirche, die sich als lernende und dynamische Organisation verstehen muss, damit sie auch in Zukunft durch Worte und Taten und gemeinsam mit anderen Akteuren für die Würde und Freiheit ausnahmslos aller Menschen eintreten kann. Damit dies gelingt, braucht es kommunikative Schnittstellen in die Zivilgesellschaft und ein wachsendes Bewusstsein für die eigene Beteiligung im gesellschaftspolitischen Diskurs. Wer den Anspruch hat, ein lebensrelevanter Teil der Gesellschaft zu bleiben, darf in Wahrheits- und Geltungsfragen keine Sonderrechte beanspruchen und muss seine Anliegen so vortragen, dass sie sowohl innerhalb als auch außerhalb der Kirche verstanden werden. Ein offener Dialog mit unterschiedlichen zivilgesellschaftlichen und politischen Akteuren setzt deshalb ganz basal voraus, dass man die eigene Position mit guten Gründen verteidigen kann, sie aber ebenfalls als bereicherungsfähig betrachtet. Kommunikative Schnittstellen sind alle Orte des öffentlichen Lebens, in denen sich Menschen begegnen: Kindergärten und Schulen, Krankenhäuser und Pflegeeinrichtungen, Vereine und Kulturbetriebe, politische Parteien und Verbände etc. Neben dieser Auswahl von einigen analogen Räumen kommt freilich noch eine Vielzahl von digitalen Räumen hinzu. Ehrenamtliche stehen gleich vor mehreren Herausforderungen. Ihre Anliegen müssen so zielgruppenspezifisch und professionell kommuniziert werden, dass sie zwar die eigene Echokammer verlassen, außerhalb aber nicht ungehört verhallen.
Folgt man dem Subsidiaritätsprinzip, wären an dieser Stelle ergänzend auch überörtliche kirchliche Strukturen und Netzwerke gefragt, über die einzelne ehrenamtliche Bottom-up-Initiativen von sich aus nicht verfügen können. Bleiben diese Strukturen und Netzwerke aber der überkommenen volkskirchlichen Logik verhaftet, versagt an dieser Stelle das subsidiäre Hilfestellungsgebot und die Ehrenamtlichen bleiben auf sich allein gestellt. Der Grund ist, dass diese stark binnenorientierte Logik einen kirchlichen Resonanz- und Einflussraum voraussetzt, den es so schlicht und ergreifend nicht mehr gibt. Wo niemand mehr ist, der ein politisches oder gesellschaftliches Anliegen anwaltlich weitertragen könnte, kann dieses keine Wirkung entfalten.
Kirche kann in Zukunft ihre Aufgabe als Verstärker ehrenamtlicher Initiativen nur erfüllen, wenn sie gesellschaftliche Ereignisse und Entwicklungen nicht von oben herab mit erhobenem Zeigefinger kommentiert, gleichsam auf den Rängen des Spielfelds des Lebens sitzend, sondern mitten im Spiel dabei ist. Dafür braucht es handelnde Personen auf dem Spielfeld, die gewissermaßen durch ihre spielerischen Fähigkeiten überzeugen und bereit sind, Herausforderungen lösungsorientiert in einem heterogenen Team zu begegnen.
Nur dann, wenn in der Kirche durchgehend eine Kultur herrscht, die es für alle Mitarbeitenden selbstverständlich macht, kommunikative Schnittstellen aufzusuchen, um dort Netzwerke aufzubauen und zu pflegen, wenn Kirche so selbst Teil des gesellschaftlichen Geschehens wird, verfügt sie über tragfähige und dienende Strukturen.
Obwohl das kirchliche Ehrenamt häufig bereits ganz selbstverständlich nach diesen Spielprinzipien arbeitet, leidet es an einem Imageproblem. In der öffentlichen Wahrnehmung hat sich ein klischeebesetztes Verständnis verfestigt, das auf viele Menschen eher abschreckend wirkt. Hier als Kirche werbend aktiv zu werden, erfordert allerdings Fingerspitzengefühl. Es gilt, mit alten Klischeevorstellungen aufzuräumen, ohne dabei Verletzungen bei jenen Menschen zu provozieren, die nach wie vor in den klassischen Formen des Ehrenamtes engagiert sind und dort an zentralen Stellen auch sehr gute Arbeit leisten. Diese kommunikationsstrategischen Fragen sind wichtig. Aber darüber hinaus steht für viele Ehrenamtliche der Wunsch nach mehr Begleitung und Qualifizierung des Ehrenamtes im Mittelpunkt. Die Zukunft des ehrenamtlichen Engagements wird in hohem Maße davon abhängen, wie gut es gelingt, die wachsenden spezifischen Anforderungen der verschiedenen Handlungsfelder mit entsprechenden Maßnahmen zu begleiten und Initiativen auf den Weg zu bringen.
Am Beispiel des Bistums Essen lässt sich exemplarisch verdeutlichen, wie diesem Wunsch nach spezifischer Befähigung Rechnung getragen werden kann. Neben der Entwicklung und Erarbeitung von Qualifizierungsmodulen für das Ehrenamt, die berücksichtigen, dass das Ehrenamt heute durch Aspekte/Erwartungshaltungen wie projekthafte Engagementformen, Eigenverantwortung, Selbstverpflichtung und Teilhabe an Entscheidungsprozessen geprägt ist, sind digitale Unterstützungssysteme unumgänglich, die Qualifizierungsangebote zumindest bistumsweit bündeln und eine einfache Übersicht und einen schnellen Zugriff ermöglichen. So eine Struktur, wie sie überregional etwa auch in Form des CKD-Netzwerks besteht, ist heute die Grundvoraussetzung für nachhaltige politische Kommunikation und aktive Lobbyarbeit. Das verbindende Ziel einer gerechteren Gesellschaft, in der die blinden Flecken des Sozialsystems ausgeleuchtet werden, lässt sich über Religionsgrenzen hinweg langfristig nur in Zusammenarbeit mit anderen Verantwortungsträgern erreichen.
Dazu braucht es zweierlei: erstens ein verbindendes Bewusstsein für die gesellschaftliche Bedeutung von Solidarität, die die Würde der Person in den Mittelpunkt stellt und keinen Menschen ins Bodenlose fallen lässt; zweitens eine konstruktive Konfliktkultur, in der vernunftgeleitet hart um die Sache gerungen werden kann, dem Gegenüber mit Respekt begegnet wird und sich alle Beteiligten lern- und einsatzbereit zeigen.
Autor: Bischof Dr. Franz-Josef Overbeck
Die Urheberrechte dieses Textes liegen beim Autor.
Publiziert in: Ehrenamt setzt sich ein! Sozial aktiv - politisch wirksam, Jan. 2021