Verräterische Datenspuren
Mein erstes Ehrenamt war eine rein virtuelle Angelegenheit. Es begann damit, dass ich in Wikipedia einen Fachbegriff nachschlagen wollte. "Diese Seite existiert nicht", stand da plötzlich. Das war ungewöhnlich. Ich zögerte erst, klickte dann aber auf den unscheinbaren Button. "Erstellen" stand darauf. Zuvor hatte ich die Bitten von Wikipedia zur Mitarbeit stets überlesen. Das änderte sich an diesem Tag.
Die Illusion vom freien Internet
Bis spät in die Nacht feilte ich an meinem ersten Artikel. Als ich auf "veröffentlichen" klickte und wenig später die Seite aufrief, war ich nicht nur mächtig stolz. Vielmehr hatte ich das Gefühl, Teil von etwas Großem, etwas Wunderbarem zu sein. "Stell dir eine Welt vor, in der je-der Mensch auf der Erde freien Zugang zum gesamten menschlichen Wissen hat", bringt Wikipedia-Gründer Jimmy Wales die große Vision auf den Punkt. Alle Inhalte können frei genutzt und weiterverwendet werden. Die Software, auf der die größte Wissenssammlung der Welt basiert, steht unter einer freien Lizenz. Wikipedia ist ein Leuchtturmprojekt der globalen Zivilgesellschaft. Auf der Liste der meistbenutzten Webseiten weltweit steht das nichtkommerzielle Projekt nur leider recht allein da. Die populärsten Online-Dienste werden von Unternehmen betrieben. Würde man versuchen, das Internet in der analogen Welt abzubilden, wäre Wikipedia eine Art Marktplatz, auf dem regelmäßig öffentliche Veranstaltungen und Abstimmungen stattfinden. Alle Regeln werden gemeinsam beschlossen. Facebook hingegen wäre eine Mischung aus gigantischer Shopping-Mall und Gated-Community. Dort gilt das Hausrecht des Besitzers.
Beim Streben nach immer höheren Gewinnmargen gerät die Privatsphäre der Nutzer regelmäßig unter die Räder. Diese Entwicklung wirkt sich auch auf unser soziales und politisches Engagement im Netz aus. Die Organisation einer Demonstration über Facebook bedeutet, dass der US-Konzern noch Jahre später nicht nur weiß, wer daran teilgenommen hat, sondern auch, wer wen eingeladen oder Aufrufe geteilt hat. Facebook weiß, wer eher Wortführer und wer Mitläufer ist. Und wie wir politisch ticken.
"Du musst Facebook ja nicht nutzen"
Das Standard-Argument "Du musst Facebook ja nicht nutzen!" geht leider an der Lebenswirklichkeit vieler Menschen vorbei. Es geht längst nicht mehr um ein einzelnes soziales Netzwerk. Zum Unternehmen gehören weitere beliebte Dienste. Wer nicht im WhatsApp-Chat der Familie ist, der bekommt die ersten Schritte des Enkelkinds viel später zu sehen. Jugendliche, die nicht bei Instagram sind, fühlen sich ausgeschlossen. Verbände und Vereine mit begrenzten Möglichkeiten der Öffentlichkeitsarbeit können kaum auf Social Media verzichten. Man muss die Menschen eben dort abholen, wo sie sind. Das gilt besonders in politisch turbulenten Zeiten wie diesen. Denn schließlich werden gesellschaftliche Debatten heute auch online ausgehandelt. Die sozialen Netzwerke den Hetzern und Populisten zu überlassen, kann keine Lösung sein.
Überwacht und verkauft
Das auf personalisierter Werbung basierende Geschäftsmodell der "Facebook-Familie" hat jedoch zur Folge, dass jede unserer Handlungen minutiös protokolliert wird. Was das konkret bedeutet, das blenden die meisten Nutzer gerne aus. Facebook gewährt in den Einstellungen lediglich Einblick in einen winzig kleinen Teil der eigenen Datenspur. Es lohnt sich, einmal einen Blick darauf zu werfen. Hier findet man neben dem Start- und Endpunkt all seiner Freundschaften ebenso alle Suchanfragen, die seit der Anmeldung getätigt wurden. Und je nach Einstellung des Smartphones mag so mancher Nutzer überrascht feststellen, dass Facebook weiß, wo man sich wann aufgehalten hat. Ein Blick auf solche Daten macht schnell klar, warum es wichtig ist, seine Privatsphäreeinstellungen regelmäßig zu überprüfen und je nach Bedarf anzupassen.
Der hintergründigeren Datensammlung von Facebook kann man sich dennoch kaum noch entziehen. Facebook speichert dank der hochgeladenen Adressbücher seiner Nutzer sogar Daten von Menschen, die gar nicht bei Facebook sind. In einer Anhörung vor dem EU-Parlament im Jahr 2018 räumte Facebook-Gründer Mark Zuckerberg zudem ein, dass der Konzern mittels dem auf vielen Webseiten eingebundenem Like-Button auch systematisch Daten von Nichtnutzern erfasst. Wir können uns heute noch gar nicht vorstellen, was sich in zehn Jahren mit einem solchen Datenpool anstellen las-sen wird. Denn nicht nur die Summe der Daten wächst - die Analysewerkzeuge werden ebenfalls beständig verfeinert. So warnen beispielsweise Forscher der Universität Cambridge, dass eine Hand voll Likes ausreicht, um mit hoher Treffsicherheit die sexuelle Orientierung und Religion eines Nutzers herausfinden zu können.
Wir sind manipulierbarer, als wir denken
Wissen ist Macht - dieser Ausspruch bekommt mit der Digitalisierung eine ganz neue Dringlichkeit. Hätte uns jemand vor zehn Jahren erzählt, dass Datensammlungen einmal Wahlen entscheiden könnten, wir hätten ihn ausgelacht. Heute lacht keiner mehr. Je nach Daten-schatten bekommen wir online längst nicht nur unter-schiedliche Produkte, sondern auch andere politische Botschaften angezeigt. Je genauer unser Verhalten analysiert werden kann, desto besser lassen sich Botschaften "framen", die uns in diese oder jene Richtung manipulieren sollen. Wer unsere Macken kennt, kann uns an der Leine unserer Sehnsüchte spazieren führen.
Facebook ist nur eines von vielen Unternehmen, das unsere Daten hortet, als wären sie eine Kapitalanlage. Google bietet seinen Nutzern einen ganzen Strauß vermeintlich kostenloser Dienste an. Der Haken ist nur, dass auch dieses Unternehmen "nebenbei" umfassende Datensammlungen anlegt. Dabei geht es keineswegs lediglich um Suchanfragen. Google Maps erfasst Standortdaten von Hunderten Millionen Nutzern. Gmail hat bis vor einigen Jahren noch die Inhalte privater Nutzer-E-Mails analysiert. Und zahlreiche Internetseiten haben die Google-Werbedienste Google Analytics oder DoubleClick eingebunden. Wer sich ungeschützt durchs Netz bewegt, wird beständig vermessen und erfasst. Der analoge Buchhändler fragt nicht, welche Bücher wir uns anschauen, ohne sie zu kaufen. Amazon schickte mir, als ich im Rahmen der Recherche für mein Buch "Die Daten, die ich rief" anfragte, eine Tabelle mit 15.365 Zeilen zu. Jede Zeile stand für einen Klick. Zu jedem Klick gab es bis zu 50 zusätzliche Angaben. Die Datenfülle ist überwältigend. Überwachung ist zur neuen Normalität geworden.
Datenschutz und Ehrenamt
Digitales Ehrenamt findet nicht losgelöst von diesen Entwicklungen statt. Wir sind mittendrin. Für ein echtes Umdenken beim Datenschutz braucht es rechtliche Schritte. Hohe Datenschutzstandards, an die sich Google und Facebook halten müssen. Im Kleinen haben aber auch wir eine Wahl. Jede Organisation kann signalisieren, dass ihr der Schutz der Privatsphäre ihrer Unterstützer und Mitglieder wichtig ist. Zahlreiche Vereine gleichen derzeit bedenkenlos Adresslisten mit Facebook ab, um Mitgliedern oder Förderern zielgerichtete Werbung schalten zu können. Aus Datenschutzperspektive ist das hochproblematisch. Events und Inhalte sollten niemals ausschließlich auf Facebook zugänglich sein, um Nicht-Nutzer nicht auszuschließen. Statt aus-schließlich WhatsApp zu verwenden, kann man der nichtkommerziellen Messenger-App Signal eine Chance geben.
Natürlich ist es bequem, Google-Mail zu nutzen. Für nur etwa einen Euro im Monat wäre allerdings genauso eine datenschutzfreundliche Alternative zu haben. Wer
Standorte auf der Webseite anzeigen will, kann die Alternative OpenStreetMap nutzen. Statt Google Analytics mit Besucherdaten zu füttern, können Webseiten-Betreiber Matomo (ehemals Piwik) auf dem eigenen Server installieren. Statt Google Chrome kann man den Browser Firefox auf dem Vereinsrechner nutzen. Statt Google als Standardsuchmaschine festzulegen, kann man auch Alternativen nutzen.
Wenn ihre Daten fremdgehen
So verlockend auch viele vermeintlich kostenlose Web-Angebote sind, es ist wichtig, nicht in eine Abhängigkeitsfalle zu tappen. Das gilt vor allem für cloudbasierte Dienste wie z.B. Dropbox. "Cloud" bedeutet immer, dass die Dokumente auf einem fremden Rechner gespeichert sind. Vertrauliche Daten gehören da grundsätzlich nicht hin. Es macht allerdings einen Unterschied, ob jemand dort lediglich Flyer-Entwürfe oder aber Mitgliederlisten hochlädt. Letzteres hat dort definitiv nichts zu suchen. Alternativ können Vereine und Gruppen ihre eigene "Cloud" (z.B. mit der kostenlosen Software Owncloud oder Nextcloud) auf einem eigenen Server betreiben. Denn gerade in sensiblen Bereichen ist es wichtig, die Privatsphäre von Hilfesuchenden und Unterstützern zu schützen. Vertrauliche Daten lassen sich mit kostenlosen Opensource-Programmen wie VeraCrypt sicher verschlüsseln. Dank solcher Vorsichtsmaßnahmen bleiben die Daten auch bei Verlust oder Diebstahl eines Datenträgers sicher.
Im Sinne der Datensparsamkeit kann es außerdem helfen, sich bei neuen Datensammlungen stets zu fragen: "Ist es wirklich erforderlich, das zu erfassen? Reichen nicht auch anonymisierte Statistiken?" Wichtig ist zudem, in der Datenschutzerklärung klar zu kommunizieren, welche Daten zu welchem Zweck erfasst werden. Eine solche Transparenz schafft Vertrauen. Wer unsicher ist, was alles in eine Datenschutzerklärung für die eigene Webseite gehört, kann dafür einen Online-Baukasten nutzen wie z.B. www.datenschutz-generator.de. Damit ist diese vermeintlich komplexe Aufgabe schnell erledigt.
Die Veränderung ist nicht aufzuhalten. Das Ehrenamt können sich die meisten Menschen heute ebenso wenig ohne digitale Technologien vorstellen wie ihren Alltag. Sich mit Gleichgesinnten zu vernetzen, war noch nie so einfach wie heute. Wir können als Zivilgesellschaft mit darüber entscheiden, welchen Weg wir bei der Digitalisierung einschlagen. Diese Chance sollten wir nutzen. Je selbstverständlicher digitale Formen des Engagements werden, desto mehr Gewicht bekommen auch Fragen des Datenschutzes. Das Thema ist mehr als nur eine Randnotiz wert. Beim Datenschutz geht es nicht um den Schutz von Daten - es geht um den Schutz von Menschen. Denn der gläserne Bürger macht die Demokratie zerbrechlich.
Über die Autorin:
Katharina Nocun leitete bundesweite Kampagnen zum Thema Datenschutz, Whistleblowing und Bürgerrechte, u.a. für die Bürgerbewegung Campact e. V., Mehr Demokratie e.V. und der Verbraucherzentrale Bundesverband (vzbv). Sie bloggt unter kattascha.de. 2018 er-schien ihr Buch "Die Daten, die ich rief" bei Lübbe.