Engagementpolitik im vereinigten Deutschland
Leiter Information und Kommunikation Bundesnetzwerk Bürgerschaftliches Engagement (BBE), Berlin© Dr. Rainer Sprengel
Wir sind es gewohnt, Politik in unterschiedliche Sachgebiete einzuteilen, wie Sozialpolitik, Gesundheitspolitik, Sportpolitik oder Umweltpolitik. Dort gibt es Fachdiskurse und Fachwissen in Verbindung mit Strukturen: Ministerien oder Fachabteilungen in Ministerien, gemeinnützige, zivilgesellschaftliche Organisationen in Form etwa von Wohlfahrts- oder Umweltverbänden. Fachmedien und besondere Berufsfelder entstehen ebenso wie besondere Handlungsfelder für bürgerschaftlich Engagierte, die als Ehrenamtliche ihre Zeit geben, Geld, Ideen, Sachen oder Emotionen spenden oder Stiftungen errichten. Wirtschaftliche Aktivitäten von Unternehmen vertiefen sich und werden Gegen-stand von entsprechender Lobbyarbeit.
Politiker*innen können sich in Partei, Parlament und Öffentlichkeit einen Namen als Fachpolitiker*in machen: einst ein Norbert Blüm als Sozialpolitiker oder heute ein Karl Lauterbach als Gesundheitspolitiker.
Engagementpolitik - ein noch junges Politikfeld
Ehrenamtliche und freiwillige Tätigkeiten der Bürgerinnen und Bürger für das Gemeinwohl, das freiwillige Spenden von Geld, die Errichtung von Stiftungen wurden gut 50 Jahre lang in der Bundesrepublik lediglich als ein Anhängsel anderer Politikfelder behandelt. In der DDR wurden parallel fast alle Stiftungen aufgelöst und ehrenamtliche wie freiwillige Tätigkeiten zugleich so stark von Staat und SED vereinnahmt, dass Ehrenamt und Freiwilligenarbeit Schaden nahmen.
Der Beginn der Engagementpolitik als eigener Politikbereich ist in Deutschland präzise bestimmbar. Sie fing an mit der "Enquete-Kommission Zukunft des Bürgerschaftlichen Engagements des XIV. Deutschen Bundestags" (1998-2001). Sie erarbeitete in Verbindung mit vielen Akteuren aus Zivilgesellschaft und Wissenschaft einen über 800 Seiten starken Bericht, begleitet von zwölf Bänden zu Einzelfragen. Besonders nachhaltig und konstitutiv für das Entstehen von Engagementpolitik wirkten sich drei Erfolge der Kommission aus:
1. Der Begriff "Bürgerschaftliches Engagement"
Damit gelang es der Kommission, das gesamte freiwillige, private Engagement von Bürger*innen für das Gemeinwohl unter einem Begriff zu versammeln: ehrenamtliche Tätigkeiten und Freiwilligenarbeit ebenso wie alle Arten von Spenden und Stiften (Geldspende, Sachspende, Blutspende, Stiftungserrichtungen usw.), einschließlich Spenden- und Handlungsformen von privaten Unternehmer*innen und Wirtschaftsunternehmen.
2. Der Begriff "bürgerschaftlich"
Hiermit unterstrich die Kommission, dass jede*r, der/die sich freiwillig für das Gemeinwohl engagiert, ob in einer CKD-Gruppe, im Gesangs-, Karnevals- oder Sportverein, ob als Ehrenamtliche*r im Hospiz, als Vorlesepate in der Schule oder als ehrenamtliche*r Schornsteinkletterer*in bei Greenpeace, unsere demokratische Bürgerschaft mit Leben erfüllt, stärkt und weiterentwickelt. Das bedeutet damit allerdings auch, dass das, was wir freiwillig für unsere Kommune, unser Land, für Europa und die Welt in der Regel im Kleinen tun, Gegenstand öffentlicher Diskussion und Kritik sein kann.
3. Neugründung Unterausschuss Bürgerschaftliches Engagement und Bundesnetzwerk Bürgerschaftliches Engagement
Zwei Institutionen wurden auf Anregung der Kommission unmittelbar gegründet. Der Deutsche Bundestag setzte in der Folgelegislatur beim Familienausschuss den Unterausschuss Bürgerschaftliches Engagement ein, der seit nunmehr fast 20 Jahren existiert. Damit entstand bei diesem Querschnittsthema zugleich eine besondere, engagementpolitische Zuständigkeit beim Bundesfamilienministerium.
Zeitgleich gründeten auf Anregung der Kommission zivilgesellschaftliche Organisationen im Verbund mit Wirtschaft und Staat das Bundesnetzwerk Bürgerschaftliches Engagement (BBE), das ebenso seit bald 20 Jahren existiert und auf Beschluss des Bundestages von der Bundesregierung auch finanziell gefördert wird. Daneben verfügt es über Mitgliedsbeiträge sowie über Spenden und Projektmittel von Stiftungen und anderen zivilgesellschaftlichen Organisationen, Wirtschaftsunternehmen und verschiedenen staatlichen Ebenen.
Plattform statt Lobby- oder Dachverband
Das Besondere am BBE ist dabei, kein Lobby- oder Dachverband etwa für Ehrenamtlichkeit zu sein, sondern eine Plattform für alle zivilgesellschaftliche Organisationen, staatliche Institutionen, Wirtschaft, Medien, Politik und Wissenschaft, die bürgerschaftliches Engagement voranbringen wollen. Die große Mehrzahl der Mitglieder sind bundesweit tätige zivilgesellschaftliche Organisationen und Verbände, darunter als stimmberechtigte Mitglieder die Caritas-Konferenzen Deutschlands, der Deutsche Caritasverband und der Verbund Freiwilligen-Zentren im Deutschen Caritasverband. Zugleich wirken große Unternehmen mit wie BP, IBM oder Volkswagen und alle Bundesländer.
Dabei steht im Mittelpunkt, gemeinsam Probleme und Chancen zu identifizieren, Lösungen zu erarbeiten, Argumente zu schärfen, gute Praktiken und neue Ansätze zu verbreiten. Dies geschieht u.a. in von der Mitgliederversammlung eingesetzten Arbeitsgruppen und in Projekten. Daneben bringen ernannte Themenpat*innen in weiteren Feldern ihre spezielle Expertise ein. Angesichts seiner heterogenen Mitgliedschaft versteht sich das BBE als eine Diskursplattform, die zugleich den institutionellen Ausbau der Engagementpolitik vorantreibt. In seinen Newslettern, die laufend über Entwicklungen im bürgerschaftlichen Engagement und in der Engagementpolitik informieren, werden u.a. inhaltliche Schwerpunkte von Autor*innen aus Projekten vor Ort und aus Verbändesicht, von Politiker*innen und aus der Perspektive von Wissenschaft und Wirtschaft diskutiert.
Das BBE wirbt beharrlich dafür, Infrastrukturen für bürgerschaftliches Engagement wie zum Beispiel Freiwilligenagenturen oder Freiwilligendienste gut abzusichern und auszubauen oder auch Engagementlernen in Kitas, Schulen und Universitäten besser zu verankern (Lernen durch Engagement).
Schlaglichter aus der heutigen BBE-Arbeit
- Mit der Woche des Bürgerschaftlichen Engagements im September eines Jahres wird seit 16 Jahren ein bundesweiter Rahmen für vielfältige lokale Aktivitäten bereitgestellt.
- Anfang Dezember fand der 5. Deutsche Engagementtag statt, um Zukunftsthemen zu erkunden. Den Engagementtag bereitet das BBE zusammen mit dem Bundesfamilienministerium vor.
- Seit diesem Jahr ist die Geschäftsstelle der "Engagierten Stadt" mit aktuell 73 Städten beim BBE angesiedelt. Sie bietet ein breites Angebot an Austausch, Qualifizierung, Strategieberatung und Zusammenarbeit der engagierten Städte miteinander.
- Das "Forum Digitalisierung und bürgerschaftliches Engagement", gefördert von der Robert-Bosch-Stiftung und dem Bundesinnenministerium, soll dringende Handlungsbedarfe und Herausforderungen in diesem Themenbereich durch eine breite Beteiligung identifizieren.
- Mit "Deutschland sicher im Netz" arbeitet das BBE im Projekt "Digitale Nachbarschaft DiNa" zusammen, in dem Ehrenamtliche vor Ort dabei unterstützt werden, ihre digitale Arbeit sicher und datenschutzkonform durchzuführen.
- Das BBE hat, zusammen mit Inbas-Sozialforschung, dem Bundesverband russisch-sprachiger Eltern (BVRE) und der Föderation Türkischer Elternvereine in Deutschland (FÖTED) intensiv die Entstehung des "Bundeselternnetzwerks der Migrantenorganisationen Bildung und Teilhabe (bbt)" unterstützt und begleitet.
Solche und frühere Aktivitäten haben auf Bundesebene, wie auch der Unterausschuss Bürgerschaftliches Engagement im Bundestag, dazu beigetragen, Engagementpolitik als Politikfeld zu entwickeln.
Auf Länderebene und kommunaler Ebene haben sich, föderal unterschiedlich aufgestellt, Strukturen einer Engagementpolitik entwickelt. Auch auf Bundesebene ging es weiter.
Aktivitäten der Bundesregierung
Seit zehn Jahren muss die Bundesregierung einmal in der Legislaturperiode einen großen Bericht zur Entwicklung des bürgerschaftlichen Engagements vorlegen, der von einer wissenschaftlichen Kommission vorbereitet wird. 2010 gab sich die Bundesregierung eine erste Engagementstrategie, die in den letzten Jahren überarbeitet wurde. Einige Bundesländer und zunehmend Kommunen haben eigene Engagementstrategien, mit denen Aufgaben und Förderstrategien, aber ebenso Vorstellungen über die Partnerschaft von Staat und Zivilgesellschaft sowie Staat und bürgerschaftlich Engagierten festgeschrieben werden. Sie sollen auch eine Orientierung für gutes öffentliches Verwaltungshandeln gegenüber Engagierten und ihren Anliegen bieten. Es gibt heute ein von Kommune bis zum Bund und der EU weit verzweigtes Netz von Institutionen, Fachleuten und Fachmedien sowie Fachpolitikerinnen, für die bürgerschaftliches Engagement ein gemeinsames Politikfeld ist, eine wichtige gesellschaftliche Gestaltungsaufgabe.
Deutsche Stiftung für Engagement und Ehrenamt
Das jüngste Kind der Engagementpolitik auf Bundesebene ist die von der Bundesregierung 2020 errichtete Deutsche Stiftung für Engagement und Ehrenamt (DSEE), die mit jährlich 30 Millionen Euro ausgestattet ist, die zu gleichen Teilen aus dem Familienministerium, dem Innenministerium und dem Landwirtschaftsministerium kommen.
Die DSEE sollte zwischenzeitlich als rein operative Stiftung entstehen, die lediglich Beratungs- und Forschungsleistungen erbringt - das war Ergebnis eines Kompromisses zwischen wenigen Personen aus Politik und Ministerien - obwohl aus der Zivilgesellschaft gefordert worden war, dass Ehrenamtliche und Engagierte vor Ort auch zusätzliches Geld brauchen, zumal, wenn kommunale Kassen knapp sind. Gemeinsamen Anstrengungen von Fachpolitiker*innen aus Regierungs- und Oppositionsfraktionen, dem BBE und vielen Mitgliedsorganisationen mit ihren je eigenen Möglichkeiten ist es zu verdanken, dass der Bundestag die DSEE zugleich als Förderstiftung errichtete. Die DSEE, jetzt geleitet von erfahrenen Vorständen, die aus zivilgesellschaftlichen Organisationen kommen, vergibt gerade ihre ersten Fördermittel.
Gleichwohl haben die Auseinandersetzungen um die DSEE auch gezeigt, dass Engagementpolitik noch ein junges Politikfeld ist, dessen Themen und Institutionen noch kräftiger und sichtbarer werden müssen. Daran kann von Kommune bis EU jede*r mitwirken.
Autor: Dr. Rainer Sprengel
Die Urheberrechte dieses Textes liegen beim Autor.
Publiziert in: Ehrenamt setzt sich ein! Sozial aktiv - politisch wirksam, Jan. 2021