Ich bete für dich - Bleib behütet
Über die Schwelle gehen
Auch ich erhalte sie. Wenn ich mich verabschiede, ruft mir die dementiell erkrankte Dame im Altersheim fröhlich-verlässlich jedes Mal nach: "Und frohe Weihnachten" - jenseits von Jahreszeiten. Ich freue mich darüber, gehe leichten Herzens über die Schwelle. Erinnert sie mich doch immer an ein Freudenfest, das anscheinend auch in ihrem Gedächtnis einen Platz hat.
Als ich klein war und über die Haustürschwelle ging, hat meine Mutter mich gesegnet, ein kleines Kreuz auf die Stirn gezeichnet, mal mit einem "bleib behütet", oder "in Gottes Namen", mal auch ohne Worte. Ich mochte das sehr, war es doch ein Moment der intensiven Zuwendung, der nur uns beiden gehörte: Ich werde angesehen, mir wird Gutes gewünscht - das lässt wachsen. Auch wenn es mir mit zunehmendem Alter peinlich wurde, vor allem wenn Freunde dabei waren: meine Mutter hat es immer geschafft, mir ein hingehuschtes Kreuz auf die Stirn zu zeichnen.
Eine kleine Geste, die den Schritt über die Schwelle markiert - aber noch viel mehr: verbunden mit Aufmerksamkeit und dem Wunsch und der Hoffnung, dass ich gut wieder nach Hause komme.
Wer segnet gibt etwas, was er gar nicht hat.
Jede und jeder, der einen lieben Menschen über eine Schwelle begleitet, weiß, dass es nicht in seinem Vermögen steht, dass alles gut ausgeht. Deshalb der Segenswunsch: "bleib behütet": Da soll jemand auf dich aufpassen, dass es Dir wohlergeht. Beim Verabschieden der eigenen Kinder genauso wie beim Krankenbesuch, auf der Palliativstation genauso wie im Altersheim, bei der Familienhilfe genauso wie beim Treffpunkt für Alleinstehende: bleib‘ behütet!
Da geschieht etwas Seltsames: Wer "bleib‘ behütet" sagt, muss sich selbst eingestehen, dass er beim besten Willen nicht selbst über die Kraft des Segens verfügt. So sehr ich es wünsche, dass "alles gut geht", so wenig liegt es in meiner Macht. Wer segnet gibt etwas, was er gar nicht hat. Was ich mit einem "bleib behütet" jedoch mache: Ich erinnere an eine Kraftquelle. An etwas, das weit größer ist, als ich selbst es bin. Ich bringe Gott ins Spiel. Ich kann Gott nicht in die Knie zwingen, dass er meine Wünsche erfüllt. Aber ich kann den Menschen, dem ich Gutes wünsche, in ein besonderes Licht stellen - in das Licht Gottes. Gott übersieht niemanden. Jeder ist ihm wichtig. Jedem Kind, jeder Frau und jedem Mann gibt er ein unverlierbares Ansehen, ob gesund oder krank, ob reich oder arm, ob mit oder ohne Job.
Jedem spricht Gott zu: Du bist mein geliebter Mensch. Auf meine genaue Wortwahl kommt es - so glaube ich - gar nicht an. Bleib behütet, Gott schütze Dich, ich zünde eine Kerze für dich an, ich bete für Dich, … Eher ist es die Melodie in der Zuwendung, die zwischenmenschliche Beziehung, die deutlich macht, dass es sich um mehr als einen alltäglichen Wunsch handelt.
Stellen Sie sich nur vor, sie würden in jeder Shopping Mall mit den Worten "Gott schütze Dich" verabschiedet. Also ich würde mir das verbitten. Denn Segnen ist ein Beziehungsgeschehen. Ich will der segnenden Person vertrauen, dass sie es gut mit mir meint. Und noch mehr: Ich will ihr vertrauen, dass sie in irgendeiner Art ein Fädchen in Händen hält, das sie mit Gott verbindet.
Der Faden heißt Glaube, Hoffnung und Liebe. Das bieten wir an - das ist mehr als genug, das ist großartig!
Übrigens auch ein Angebot für Menschen, die mit Religion nichts am Hut haben. Das darf gerne irritieren, ungläubiges Staunen provozieren, ja manchmal auch herzhaftes Lachen - aber "lassen Sie das mal lieber", nein, das hat noch niemand zu mir gesagt. Es scheint fast, dass der Wunsch nach Segen tief in der menschlichen Seele wohnt.
Könnten Sie für mich beten?
Ich habe einen älteren Herrn bei der Wohnungsauflösung unterstützt. Anna, seine Frau, ist verstorben. Er hat sich entschieden, ins Altersheim umzusiedeln. Töpfe und Pfannen braucht er nicht mehr, aber alles, was nicht eindeutig auf die "kann weg" Seite gehört, muss bedacht werden. Den Heimtrainer, nein, den benutzt er schon lange nicht mehr, aber was machen mit all den Büchern, den Fotos, den Weingläsern, die sie aus Spanien mitgebracht haben? Die könne er doch nicht … also einfach ist es mit der Sortiererei nicht. Wir machen Häufchen: eines, über das seine Kinder entscheiden müssen, - und hoffentlich streiten die sich nicht! -, eines, das wir zum Caritas-Laden bringen, und eines, das mit in sein neues Domizil soll. Da hält er eine Karte in der Hand, dreht sie um und liest vor: "Lieber Karl, ich bete für Dich, Deine Anna." Seine Frau habe ihm diese Karte geschrieben, als er - es ist Jahre her - im Krankenhaus lag. Diese Worte hätten ihm so gut getan. Tränen steigen ihm in die Augen und er meint, er könne das mit dem Beten nicht, wisse gar nicht, was er da sagen soll, er hätte da keine Worte. Er seufzt tief, so von ganz unten herauf. Und dann sagt er zu mir: "Könnten Sie für mich beten?". Ich versichere ihm, dass ich für ihn beten würde. Und füge hinzu, dass er jetzt gerade eben selbst sein intimstes Gebet gesprochen hat.
Vom Seufzen
Gebete gibt es so viele wie es Menschen gibt. Die einen schicken Stoßgebete zum Himmel, andere beten ein Vater unser, manche wollen die Hände falten, andere brauchen zwei oder drei weitere, die mit ihnen beten, und wieder andere suchen die Stille auf einer harten Kirchenbank. Die Aufzählung ist lange nicht zu Ende.
Und dann gibt es noch ein Gebet. Ich nenne es das Seufzen. Aus tiefer Brust Seufzen.
Ich selbst zelebriere das Seufzer-Gebet richtig. Bevorzugt, wenn ich ganz alleine bin. Und bin immer wieder überrascht, zu welchen Seufzerhöhen und -tiefen ich in der Lage bin. Seufzen können, so richtig aus tiefer Brust, hat was ungemein Entlastendes. Seufzen können ist eine Gnade. Sonst könnte man fast ersticken. So viel kann raus im Seufzer, gerade wenn Worte fehlen.
Der Lehrmeister für das Seufzer-Gebet ist der Heilige Paulus. Er empfiehlt das Seufzen ausdrücklich. Und weil er ein kluger Mann ist, weiß er auch, dass wir - ob wir für uns selbst oder für andere beten - oft gar nicht genau wissen, "worum wir in rechter Weise beten sollen" (Röm 8,26). Das Gute ist, das braucht es auch gar nicht, weil Gott unser Seufzen versteht. ‚Wenn uns die Worte fehlen‘, sagt Paulus, ‚dann einfach tief seufzen.‘ Wir dürfen uns sicher sein, dass unsere Seufzer bei Gott ankommen. Seufzen ist das intensivste ganz-ohne-Worte-Gebet, das ich kenne. Es steht immer zur Verfügung. Es kommt immer bei Gott an. Lassen Sie uns das weitersagen!
Ute Eberl, Stellvertretende Bereichsleiterin Pastoral im Erzbischöflichen Ordinariat Berlin
Publiziert in: Mission MitMensch! Agentinnen und Agenten der Nächstenliebe, Jan. 2020