Ausgangslage
Immer häufiger berichtet die Presse davon, dass alte Menschen von der Polizei in ihrer Wohnung tot aufgefunden werden, nachdem sie bereits Tage oder Wochen vorher verstorben waren - vermutlich allein und ohne, dass sie jemand im Nachgang vermisst hätte. Das sind drastische Beispiele, aber sie zeigen, dass die Vereinzelung in der Gesellschaft gravierende Ausmaße angenommen hat. Wir hören Erzählungen von Menschen, die bei Übergängen ins Rentenalter, Berufsleben oder durch Verlusterfahrungen in tiefe Krisen stürzen und sich aus Sozialkontakten zurückziehen. Und wir hören von Menschen, die aufgrund ihrer Herkunft, ihres Alters, ihrer Behinderung oder chronischen Erkrankung relativ isoliert leben und nur wenig teilhaben am gesellschaftlichen Leben und Gesellschaft mitgestalten.
Die Beispiele veranschaulichen: Einsamkeit hat viele Facetten und ist in den letzten Jahren verstärkt ins öffentliche Bewusstsein gerückt. Neben den sozialen Folgen der Corona-Pandemie (Stichwort Kontaktbeschränkungen), einer wachsenden Anzahl älterer Menschen (Stichwort Demografischer Wandel) und alleinlebender Menschen (Stichwort Single-Haushalte) in Deutschland zeigt sich, dass Einsamkeit insbesondere ältere, aber auch vermehrt junge Menschen betreffen kann. Soziale Missstände wie Isolation, Ausgrenzung und Diskriminierung, aber auch mögliche Scheinzusammenhänge zwischenmenschlicher Beziehungen (Stichwort Soziale Medien) verstärken Erfahrungen von Einsamkeit und verdeutlichen in der Moderne: Einsamkeit geht uns alle an. Es handelt sich um ein gesamtgesellschaftliches Phänomen und Einsamkeit gehört zu einer der größten Herausforderungen unserer Zeit. Die Auswirkungen können gravierend sein: Wird Einsamkeit chronisch, erhöht sich für die Betroffenen das Risiko für psychische und physische Erkrankungen und das wiederum wirkt sich negativ auf ihre Teilhabe am gesellschaftlichen Leben aus. Ein Teufelskreis. Einsamkeit tangiert damit in hohem Maße das Leben zahlreicher Menschen.
Der Prävention und Linderung von Einsamkeit kommen folglich zentrale Handlungsfelder zu. Denn wir können in Gemeinsamkeit entschieden etwas dagegen tun. Hierbei gewinnen das Offenlegen subjektiver Erfahrungen von Einsamkeit und die Suche nach neuen und kreativen Formen von Gemeinschaftlichkeit zunehmend an Bedeutung. Engagementstrategien zur Förderung sozialer Teilhabe, Unterstützung und Inklusion rücken in den Fokus nationaler und internationaler Bemühungen.[1]
Als Vorreiter weltweit gilt bekanntlich Großbritannien, das als erstes Land 2018 die Bekämpfung von Einsamkeit als nationale Aufgabe angesehen hat, in deren Umsetzung seither mehrere Ministerien einbezogen wurden, und eine nationale Strategie entwickelt worden ist, die eine Koordination und Umsetzung entsprechender Maßnahmen zur Bekämpfung von Einsamkeit vorsieht (dies obliegt im Rahmen der Zuständigkeit einer Person im jeweiligen ausgewählten Ministerium).[2] In Deutschland erarbeitet das Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend (BMFSFJ) seit Juni 2022 federführend eine Strategie der Bundesregierung gegen Einsamkeit[3] und hat dafür das Kompetenznetz Einsamkeit (KNE) gegründet.[4]
Innerhalb unterschiedlicher Fachdisziplinen wird hinsichtlich Ausprägungsarten und Theoriebezugnahmen zwar unterschieden[5], aber gemeinhin wird Einsamkeit definiert als subjektive, aversive und belastende Erfahrung, die aus unzureichenden sinnstiftenden Verbindungen oder einer wahrgenommenen sozialen Isolation resultiert, in welcher sich das Subjekt wiederfindet.[6] Dabei sind im Leben Momente der Einsamkeit keineswegs unüblich. Wichtig wird in diesem Kontext die individuelle Differenzierung nach Art (intime Einsamkeit - auch emotionale Einsamkeit, soziale Einsamkeit und kollektive Einsamkeit) und Dauer von Einsamkeitsgefühlen sowie den entsprechenden Bewältigungsstrategien: wird Einsamkeit überdauernd, vorübergehend oder situativ empfunden? Und inwiefern unterscheiden sich die auslösenden und aufrechterhaltenden Faktoren einsamer Menschen? Allgemeingültige Ansätze sind wenig zielführend, vielmehr gilt es, individuelle Erfahrungen, Betrachtungsweisen und entsprechende Kontexte offenzulegen, denn die Gefühle von Einsamkeit sind höchst subjektiv und das Thema Einsamkeit verlangt eine dezidierte und auf Erfahrungswissen basierende Herangehensweise:
"Notwendig wäre die Arbeit an einer Kulturtechnik, die die zunehmend relationslosen, vereinsamten Individuen in ein Verhältnis bringt, in dem sie einerseits ihre Eigenständigkeit behalten und doch in sinnstiftende Verbindung eintreten können. [...] Die Frage danach, wie Gemeinschaft verfasst sein muss, die für die Moderne funktional ist, ist offen."[7]
[1] Vgl. BMFSFJ (2023): Strategie gegen Einsamkeit. Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend (Hg.). In: https://www.bmfsfj.de/bmfsfj/themen/engagement-und-gesellschaft/strategie-gegen-einsamkeit-201642. Aufgerufen am 22.09.2023; Cihlar, V. / Micheel, F. / Mergenthaler, A. (2022): Multidimensional vulnerability among older adults in Germany. Social support buffers the negative association with life satisfaction. Federal Institute for Population Research (BiB), Wiesbaden, Germany, https://doi.org/10.1007/s00391-022-02142-3; Felscher, H., Leicht, S., Schmidt, L.-M. (2023): Einsamkeit. Themenblatt 1/2023. Kooperationsverbund Gesundheitliche Chancengleichheit (Hrsg.), Berlin. https://www.gesundheitliche-chancengleichheit.de/fileadmin/user_upload/pdf/Newsletter/Themenblatt_1-2023-Einsamkeit_bf.pdf ; Huxhold, O. / Tesch-Römer, C. (2021): Einsamkeit steigt in der Corona-Pandemie bei Menschen im mittleren und hohen Erwachsenenalter gleichermaßen deutlich. DZA aktuell. Deutscher Alterssurvey. Heft 4 / 2021, Deutsches Zentrum für Altersfragen (Hrsg.), Berlin; Orlando, S. et al. (2021): The Effectiveness of Intervening on Social Isolation to Reduce Mortality during Heat Waves in Aged Population: A Retrospective Ecological Study, https://doi.org/10.3390/ijerph182111587; van Dick, R., Frenzel, S. B., Erkens, V. A., Häusser, J. A., Haslam, S. A., Mojzisch, A., Steffens, N. K., & Junker, N. M. (2023). Reduced loneliness mediates the effects of multiple group identifications on well-being. British Journal of Social Psycholog y, 00, 1-22. https://doi.org/10.1111/bjso.12651.
[2] Vgl. Deutscher Bundestag (2021): Bekämpfung von Einsamkeit in Großbritannien. In: Wissenschaftliche Dienste. Ausarbeitung WD 9 - 3000 - 026/21, S. 4f.
[3] Vgl. BMFSFJ (2022): Gemeinsame Strategie gegen Einsamkeit entwickeln. Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend (Hg.). In: https://www.bmfsfj.de/bmfsfj/aktuelles/alle-meldungen/gemeinsame-strategie-gegen-einsamkeit-entwickeln-198694. Aufgerufen am 04.07.2023.
[4] Vgl. Kompetenznetz Einsamkeit (Hg.). In: https://kompetenznetz-einsamkeit.de/. Aufgerufen am 01.08.2023.
[5] Vgl. Krieger, T. / Seewer, N. (2022): Einsamkeit. Fortschritte der Psychotherapie, Göttingen, S. 20ff.
[6] Vgl. ebd., S. 3; Fischbach, A.-K. (2023): "How my love could release a soul from the power of darkness". Über einige metaphysische Aspekte moderner Einsamkeit. In: Lebendige Seelsorge. Zeitschrift für praktisch-theologisches Handeln. Heft 2/2023, S. 79-84; The U.S. Surgeon General’s Advisory on the Healing Effects of Social Connection and Community (2023): Our Epidemic of Loneliness and Isolation, S. 7; Prohaska T., Burholt V., Burns A., et al. (2020): Consensus statement: loneliness in older adults, the 21st century social determinant of health? BMJ Open; National Academies of Sciences Engineering and Medicine (2020): Social Isolation and Loneliness in Older Adults: Opportunities for the Health Care System. Washington, DC: The National Academies Press.
[7] Fischbach, A.-K. (2023): S. 81.