Corona: Transformationsbeschleuniger ehrenamtlichen Engagements oder das Ende allen Tuns?
Wie helfen, wenn der Kontakt potenziell gefährlich für Ehrenamtliche und Hilfesuchende ist? Und was, wenn zudem die Ehrenamtlichen aufgrund ihres Alters oder von Vorerkrankungen zur Risikogruppe zählen? Wie gehen Ehrenamtliche, die in Deutschland mit 40,7 Prozent zu den über Sechzigjährigen zählen, mit der manifesten Konfrontation möglicher Erkrankung und damit dem Thema Endlichkeit um?
Aus der Bandbreite ehrenamtlichen Handelns unter veränderten Bedingungen möchte ich zwei exemplarische Szenarien herausgreifen.
Szenario 1
Ehrenamtliche, die Menschen unterstützen, die unter den Kontaktlimitierungen leiden (z. B. den Besuchsverboten in den Altersheimen) sind mit dem Leid der Betroffenen konfrontiert und mit der eigenen Ohnmacht, daran nichts ändern zu können. Ehrenamtliche, die gewohnt sind, dass gerade ihr Engagement möglich macht, was sonst nicht machbar wäre, stehen machtlos vor den Umständen. Sie tragen schwer an der Verantwortung zu helfen und gleichzeitig zur Untätigkeit gezwungen zu sein. Anderseits eröffnen sich neue Handlungsoptionen. Kreativität, Querdenken (wie zum Beispiel Besuche am Fenster), Neugier auf den Einsatz neuer Medien oder Rückgriffe auf Bewährtes - wie das gute alte Briefe schreiben - sind gefragt, um Kommunikation auch in schwierigen Zeiten möglich zu machen. Not macht erfinderisch und Ehrenamt kennt sich mit Not gut aus. Wie wir aktuell in diesem Heft sehen, sind in dieser schweren Zeit wunderbare, neue Lösungen entstanden. Beschränkung wird verwandelt in kreative und gegebenenfalls auch für eine neue Normalität taugliche Lösungen. Aus Lähmung wird Handlung.
Szenario 2
Ein zweites denkbares Szenario geht an die ehrenamtliche Substanz. Unter den neuen Bedingungen erhält das Thema Partizipation, also die Teilhabe und Selbstwirksamkeit der Betroffenen am Hilfeprozess, mehr Gewicht als unter normalen Alltagsbedingungen. Wo sonst eindeutig scheint, wer Hilfe benötigt und wer hilft, müssen und können Betroffene unter den Restriktionen des Coronageschehens mehr Eigenständigkeit entwickeln. Auch ohne oder mit wenig Beteiligung der Ehrenamtlichen werden hilfreiche Lösungen für den veränderten Alltag gefunden.
Eigentlich gut, aber schlecht für die Helfer(innen), die sich überflüssig fühlen können. Unter Umständen werden Unsicherheiten aktiviert, ob der Dienst überhaupt von Nutzen ist oder die neuen, selbst entwickelten Lösungen scheinen den Ehrenamtlichen unlogisch oder ungenügend. Ehrenamtliche sind gefragt, das Selbsthilfepotenzial der Betroffenen anzuerkennen und zu fördern, getreu der Maxime "Hilft mir, es selbst zu tun". Das kann in Coronazeiten auch bedeuten, gut zu heißen, wenn andere, auch neu entstandene Unterstützungssysteme für eine gewisse Zeit meine Tätigkeiten übernehmen. Hier gilt "Hilf Anderen, mir zu helfen". Ein schönes Beispiel ist der Einsatz junger Unterstützer(inn)en bei den Tafeln, um die dort engagierten, meist älteren Ehrenamtlichen zu schützen. Oder auch das Errichten von sogenannten Gabenzäunen, die nur für die Zeit bestehen sollen, in denen die Tafeln nicht öffnen können. Der viel diskutierte demographische Wandel mit seinen potenziell negativen Auswirkungen auf das Ehrenamt hat über Nacht seinen Schrecken verloren. Junge Menschen haben spontan und weitgehend selbstorganisiert ihren Teil der Verantwortung übernommen und die Zusammenarbeit von Jung und Alt ermöglicht. Vielleicht stehen in Zukunft ältere Ehrenamtliche für Kontinuität und junge für flexible, zeitlich begrenzte Einsatzmöglichkeiten Seite an Seite?
Zunächst scheint in beiden Szenarien die Selbstwirksamkeit der Ehrenamtlichen infrage gestellt, also das gute Gefühl, etwas bewirken zu können. Was, wenn ich plötzlich daran zweifle, dass mein Tun von Nutzen oder gar Relevanz ist? Ob die Selbstwirksamkeit an sich bedroht ist, möchte ich aber bezweifeln. Anstelle des Helfens tritt vielmehr der alte Wert der Solidarität. Solidarisch handeln heißt, in Gemeinschaft Verantwortung zu übernehmen, auch wenn direkte Hilfe durch mich selbst gerade nicht möglich ist. Nicht die Selbstwirksamkeit an sich ist bedroht, sondern vielmehr die Selbstwirksamkeitserwartung. Das macht einen großen Unterschied. Die Infragestellung meiner Wirksamkeit berührt ganz schnell die großen ethischen Fragen von Macht und Ohnmacht im Ehrenamt. Vielleicht endlich eine Möglichkeit, diesem Thema mehr Raum zu geben?
Ein weiterer wichtiger Punkt ist, dass durch fehlende Engagementmöglichkeiten Zeit frei wird. Die freie Zeit an sich stellt kein Problem dar. Wie im Berufsleben auch ist nach einer ersten Zeit der Orientierung endlich Muße da, all das aufzuarbeiten, was immer liegenblieb. Akten ordnen, das neue Layout für die Infobroschüre erstellen, der frische Text für die Webseiten, die Überarbeitung der Mitgliederlisten usw. Was fehlt, ist Struktur, die ansonsten durch Einsatzzeiten, Besprechungen, Fortbildungen gegeben ist. Es braucht Selbstdisziplin, gute Leitung und Organisation durch die Vorsitzenden oder auch Verbandsmitarbeiter(inn)en. Eine große Chance endlich das Thema Aufgabendelegation und Transparenz umzusetzen, Vorsitzende zu entlasten und Helfer(inn)en an überschaubare Aufgaben heranzuführen. Unter Umständen auch eine Option, gerade die Schnittstelle Ehrenamt/Hauptamt besser zu strukturieren?
Und das Schwerste, was ist das Schwerste? Wir befinden uns in einer Zeit, die uns abverlangt, mit zwei unterschiedlichen Realitäten zurechtzukommen. Einerseits die globale Gefahr, die uneinschätzbar, un-planbar und mit nichts vergleichbar erscheint. Auf der anderen Seite geht das Leben einfach weiter. Dieses schon fast dissoziative Erleben beschäftigt viele Menschen im Hintergrund und unbemerkt, strengt an, verunsichert und berührt alte Gefühle. Dazu kommt die tatsächliche Gefährdung, die Einsamkeit, die der Schutz vor Erkrankung nach sich zieht, die fehlende Gemeinschaft der Helfenden und der Verlust des schönen Kontakts zu den Betroffenen. Ehrenamtliche Kontinuität verspricht täglich Zukunft. Was jetzt, wo die Kontinuität infrage gestellt ist? Wie kann die Resilienz der Ehrenamtlichen heute gestärkt werden?
Dazu braucht es die Stärkung der ehrenamtlichen Identität und der Menschen durch das Netzwerk des Ehrenamtlichen! Der wichtige Stellenwert des persönlichen Kontakts, der unter Corona schmerzlich vermisst wird, ist die Ressource, auf die ehrenamtlich Tätige im Netzwerk zurückgreifen können, ja müssen, um die Angst vor der eigenen Verwundbarkeit aussprechen und besiegen zu können - "Hilf uns, uns selbst zu helfen".
Ehrenamt ist immer Ehre und Amt. Die Ehre besteht in der wunderbaren Chance, Selbstentfaltung und Selbstermächtigung im helfenden und sinnvollen Tun zu erleben. Das Amt beinhaltet die in den letzten Jahren erfolgte Professionalisierung ehrenamtlichen Handelns und die fordernden Tätigkeiten selbst. Das Gefühl für Ehre und Amt kann Ehrenamtlichen heute helfen, die neuen Chancen mit Weitblick und Disziplin zur erkennen. So werden aus schwierigen Zeiten herausfordernde Zeiten.
Menschen geleistet und ist unmöglich zu bezahlen, stabilisiert die gesellschaftlichen Verhältnisse und er-höht Solidarität.
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Sibylle Huerta-Krefft
Supervisorin MA (DGSv),
Lehrsupervisorin EH-Freiburg
Aus CKD-Direkt, Ausgabe 3_2020