Und plötzlich ganz auf mich gestellt … Aushalten, einknicken oder Neues wagen?
Tagebuchaufzeichnung
"So viel Zeit jetzt nur für mich, und ich habe doch nicht wirklich was geschafft! Zum ersten Mal merke ich so richtig, dass ich Corona weg haben will. Als die sagten, Besuchsdienst ist nicht mehr, wir müssen zuhause bleiben, konnte ich‘s nicht glauben. Aber jetzt ist mir ganz elend. Ich hätte nicht gedacht, dass die Besuchszeiten mir so fehlen. Trude und Bärbel haben ja Familie. Ich nicht. Die Treffen im Gemeindehaus fallen sowieso weg. Wenigstens habe ich alle Papierstapel weggeräumt. Aber die Leitz-Ordner! Wenn das doch alles bloß schon abgeheftet wäre! Ich bin so müde. Weiß gar nicht, wieso. Zu nichts kann ich mich aufraffen. Wenn ich zu Frau L. ins Heim könnte, könnte ich mit jemandem reden. Man stelle sich vor, ich bin diejenige, die die Besuchszeit jetzt braucht! Einfach nur schlafen wär‘ am besten. Wie kriege ich bloß heute den Tag noch rum?"
"Das ist nicht zu fassen! Ich darf Herrn O. nicht mehr besuchen! Muss morgen unbedingt nochmal anrufen. Die im Heim können doch Herrn O. nicht einfach sich selbst überlassen!" … - "Wieder nichts. Die bleiben stur. Die wollen nicht, dass ich komme! Kathrin hat mich aber auf eine Idee gebracht. Ihre Freundin hat die Mutter im Heim besucht. Die hat sich alle Fachartikel aus dem Internet runtergeladen und ist damit zur Heimleitung marschiert. Kathrin hat gesagt, ich soll das auch machen. Sobald die erste Lockerung kommt, soll ich hingehen und denen sagen, dass die Experten unterschiedlicher Meinung sind, und dass ich Herrn O. mit den und den Vorsichtsmaßnahmen doch besuchen kann ... "Corona-Test gemacht! Ich bin negativ, und morgen geh ich hin. Das war so gut, dass die Kathrin mir den Tipp gegeben hat, ich soll dem Heimleiter sagen, ich komme zum Seiteneingang rein, über den einen Gang wo keine Patientenzimmer sind. Und genau zu der Zeit, wenn die Pfleger alle vespern und niemand aus der Küche an die Servierwagen auf dem Gang ran muss, husch‘ ich da durch. Mit Herrn O. über Eck sitzen oder wir sitzen nebeneinander mit Abstand und schauen beide aus dem Fenster raus. Was bin ich froh! Unbedingt der Kathrin noch eine E-Mail schreiben, und mich bedanken!"
Was hätte in Ihrem Corona-Tagebuch gestanden? Auf welche der beiden Geschichten würden Sie so oder ähnlich, zurückblicken?
Wie wir mit plötzlichem Entzug von Kontakt umgehen, ist personenabhängig und teilweise in unserer Lebensgeschichte begründet. Rückzug oder "Jetzt erst recht!" - Depression oder "trotzdem!" … Wir können uns unseren Reaktionsstil nicht unbedingt aussuchen. Wir sind ja die geworden, die wir sind. Wir können uns aber annehmen mit dem, was uns möglich ist und was eben auch nicht.
In der Regel erleben handelnde Menschen sich als robuster, als gesünder und als optimistischer. Sie gehen kritische Zeiten positiv an. Menschen, die ins Denken verfallen und sich im Grübeln verfangen, haben es schwerer. Die Psychologie sagt, Denken ist immer schon Handeln. Das gilt nur, wenn das Denken auf Lösungssuche geht. Lösungen zu suchen heißt zu fragen: "Und jetzt? Was kommt als Nächstes? Was wäre jetzt ein guter kleiner Schritt in Richtung besser?"
Was ich tun kann, ergibt sich aus dem, was jetzt Not tut und womit ich jetzt anfangen kann. Ich kann immer nur mit dem anfangen, was und wie es gerade bei mir aussiehst. Ich kann, wenn es in mir grübelt, zu mir sagen: "Okay, in Ordnung. Jetzt grübelt es. Kein Wunder. Und was kommt als Nächstes nach dem Grübeln?"
Wenn uns beim Grübeln die Energie wegrutscht, ist das Denken kreiselnd statt nach vorne gerichtet. Diese Energie-Schlappe ist eine natürliche Reaktion. Etwas in uns versucht mit einer neuen Situation klar zu kommen, und weiß nicht wie. Etwas ist weggefallen was unsere Tage hat positiv sein lassen, und jetzt ist Trauer da.
Entzug von Kontakt ist ein schmerzhafter Verlust, und kann frühere lebensgeschichtliche Verlusterlebnisse aufwecken. Diese früheren Erfahrungen sagen: "Verlust tut weh!". Sie lähmen das Heute. Sie lassen innerlich resignieren und sich selbst aufgeben. Genau das ist das Einfallstor für Selbstvorwürfe. Vorwürfe gegenüber sich selbst, haben mit dem aktuellen Verlusterleben nicht unbedingt etwas zu tun. Und doch ist plötzlich alles was wir tun, und auch alles was wir nicht tun, Beweis für die eigene Wertlosigkeit. Dies ist die Wirkungsweise des inneren Kritikers, einer Stimme in uns, die an unserem Selbstwert nagt.
Ein verletzlicher Selbstwert ist wie eine altersmorsche Brücke. Sie hat an einer bestimmten Stelle einen großen Riss. Über die Jahre ist der Riss vielleicht immer größer geworden. Wenn man über die Brücke will, muss man einen Sprung machen. Manchmal gelingt das, manchmal nicht. Immer wenn aus Versehen ein Fuß in dieses Loch reintritt, werden Menschen so ängstlich und verkrampft, dass jeder weitere Schritt zum verzagten Tasten wird. Wo ist es sicher?
Im Suchen nach neuen Lösungen gibt es keine Sicherheit. Nur Fragen hilft. Und diese Fragen können wir auch an andere richten: "Wie machst Du das? Wie gehst du mit allem um?". Wenn niemand da ist zum Antwort geben, können wir auch Gott fragen, und erhalten Trost, Zuspruch und innere Führung … Hinhören müssen wir und uns überraschen lassen. So hat die eine Ehrenamtliche für sich beschlossen, zweimal in der Woche in die Stille zu gehen. Nach innen zu horchen. Und diese Stille-Zeit zu einem festen Anker ihrer Tage zu machen. Sie hat gemerkt, dass das ihre Ängste beruhigt. Sie erlebt sich dadurch weniger von äußeren Kontakten abhängig. Sie ist mehr in spürender Verbindung zur eigenen Mitte.
Tun in freundlicher Achtsamkeit für sich selbst ist der Schlüssel, der aus Entmutigung und Depression herausführt. Es lohnt sich, dabei neue Türen aufzustoßen und Dinge auszuprobieren, die vor Corona gar nicht vorstellbar waren. Jetzt sind sie es. Jetzt haben Phantasie, Kreativität und Raffinesse die Chance, Lösungswege aufzutun, die Sie zu einem Lebensschlaumeier machen. Sie wissen es nämlich besser. Sie wissen besser als andere, dass da viel, viel mehr geht als man gemeinhin so denkt. "Trau Dich!", - das ist Ihr Motto, jetzt!
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Friedegard E. Blob
Leiterin Tübinger Zentrum für Focusing
und Künstlerische Therapie
Aus CKD-Direkt, Ausgabe 4_2020