Der 6. Deutsche Freiwilligensurvey 2024 zeigt die enorme Bedeutung des freiwilligen Engagements für Gesellschaft, Demokratie und soziale Teilhabe. Mit rund 36,7 Prozent der Bevölkerung ab 14 Jahren engagieren sich etwa 27 Millionen Menschen, und viele tun dies mit hoher Beständigkeit und wachsender zeitlicher Intensität. Diese Entwicklungen nehmen wir als Caritas-Konferenzen Deutschlands (CKD) mit großer Aufmerksamkeit wahr und sehen darin den politischen Auftrag, unsere Strukturen weiterzuentwickeln, Barrieren abzubauen und Engagement so zu gestalten, dass es für alle zugänglich und wirksam bleibt. Die aktuellen Daten verdeutlichen, dass freiwillige Arbeit nicht nur gesellschaftlich notwendig ist, sondern Ausdruck eines starken Zukunftsmuts: des Muts, sich für das Gemeinwohl einzusetzen, Demokratie aktiv zu leben und mit Engagement zu einer solidarischen und nachhaltigen Zukunft beizutragen.
1. Engagement bleibt verlässlich - Bedingungen verändern sich
Der Freiwilligensurvey zeigt ein stabiles Engagementniveau. Engagierte Menschen bleiben kontinuierlich aktiv und bringen zunehmend mehr Zeit ein, selbst wenn Lebenssituationen belastender werden. Das deutet auf ein tiefes Verantwortungsgefühl und auf eine hohe Bindungskraft innerhalb der Gesellschaft hin.
Gleichzeitig wird deutlich, dass der Zugang zu Engagement und Teilhabe ungleich verteilt ist. Menschen mit niedrigerer Bildung, hoher Care-Verantwortung oder unsicheren Lebensverhältnissen engagieren sich seltener. Wir kennen viele herausfordernde Situationen von Engagierten, die gleichzeitig Kinder betreuen und Angehörige pflegen. Für die CKD bedeutet das: Viele Menschen möchten sich einbringen, finden jedoch nicht immer passende Strukturen und Zugänge. Engagementpolitik muss Barrieren abbauen und vor allem diejenigen berücksichtigen, die durch Care-Aufgaben, finanzielle Einschränkungen oder fehlende wohnortnahe Ansprechstellen besonders belastet sind. Zusätzlich zeigt der Freiwilligensurvey, dass viele Menschen bereit wären, ihre Zukunft aktiv mitzugestalten, wenn Engagementangebote sichtbarer, zugänglicher und alltagsnaher wären.
2. Ehrenamtliche als Seismograf gesellschaftlicher Bedürfnisse vor Ort
Freiwilliges Engagement zeigt früh an, wo sich gesellschaftliche Veränderungen abzeichnen. Engagierte Menschen sind oft diejenigen, die Armut, Einsamkeit, soziale Isolation oder familiäre Belastungen zuerst wahrnehmen. Sie sind Seismografen gesellschaftlicher Realitäten und tragen dazu bei, dass Bedarfe sichtbar werden, bevor sie in offiziellen Statistiken auftauchen. Ehrenamtliche wirken dort, wo institutionelle Angebote nicht mehr ausreichen oder gar nicht vorhanden sind. Sie erreichen Menschen und Situationen, zu denen formelle Strukturen nur schwer Zugang finden. Diese Nähe ist eine der stärksten Ressourcen des Ehrenamts.
3. Engagement als Ort sozialer Teilhabe und Ausdruck von Würde
Engagement ermöglicht Begegnung und Teilhabe unabhängig von Alter, Herkunft, Einkommen oder Bildungsstand. Für Menschen in belastenden Lebenssituationen - etwa infolge von Armut oder Einsamkeit - sind Begegnungen mit Ehrenamtlichen oft die ersten stabilen sozialen Kontakte. Die CKD arbeiten seit jeher aufsuchend im Sozialraum: in Nachbarschaften, Wohnquartieren, auf öffentlichen Plätzen, in Stadtteilen. Niedrigschwellige Formate wie Plauderbänke, Gesprächsangebote oder Besuchsdienste schaffen Zugänge, ohne zu stigmatisieren, und zeigen, wie wichtig persönliche Ansprache bleibt. Einsamkeit wird von uns nicht pathologisiert. Sie ist ein menschliches Gefühl, das ernst genommen wird und Raum für wertschätzende Begegnung erfordert. Zudem wird durch Engagement deutlich, welche Potenziale in unserer Gesellschaft verborgen bleiben. Menschen mit Migrationserfahrungen, Menschen in prekären Lebenslagen oder Menschen mit Sorgeverantwortung bringen Motivation und Fähigkeiten mit, die oft nicht in bestehende Strukturen hineinfinden. Engagementpolitik sollte diese Potenziale sichtbar machen und fördern.
4. Engagement braucht stabile Strukturen - Engagement als gesellschaftliche Infrastruktur
Der Freiwilligensurvey zeigt klar: Engagement bleibt langfristig nur tragfähig, wenn es durch verlässliche Strukturen unterstützt wird. Dazu gehören Information, Qualifizierung, Begleitung, Anerkennung sowie gut erreichbare Orte für Austausch und Begegnung. Engagement wirkt als gesellschaftliche Infrastruktur. Es stärkt soziale Netze, fördert Gemeinschaft und wirkt sogar präventiv gegen soziale und gesundheitliche Risiken. Dadurch trägt Engagement auch wirtschaftlich zur Stabilität bei, weil es Folgekosten reduziert und lokale Systeme von Begegnung und Zusammenhalt stärkt. Eine nachhaltige Finanzierung dieser Engagementinfrastruktur ist notwendig. Sie darf sich nicht ausschließlich auf projektbezogene Programme stützen, sondern braucht langfristige und gerechte Förderung, die sich an den wirklichen Bedarfen vor Ort orientiert.
5. Engagement, Demokratie und gesellschaftliche Sprachfähigkeit
Ehrenamt eröffnet Räume für Beteiligung und Mitsprache und ist damit ein wichtiger Ort gelebter Demokratie. Studien der DSEE zeigen, dass engagierte Menschen häufiger demokratisch orientiert sind und deutlich weniger zu autoritären Einstellungen tendieren. Für die CKD folgt daraus ein klarer Auftrag: Wir wollen Räume gestalten, in denen Menschen ihre Anliegen formulieren können, Unsicherheiten äußern dürfen und in denen demokratische Prozesse praktisch erfahrbar werden. Engagement fördert Sprachfähigkeit und stärkt das Gefühl gesellschaftlicher Wirksamkeit. Wir laden ausdrücklich dazu ein, mit uns ins Gespräch zu kommen. Der Dialog mit Engagierten ist bereichernd und notwendig, um politische Entscheidungsprozesse inklusiver zu gestalten und gesellschaftliche Entwicklungen konstruktiv zu begleiten. Die CKD bringen sich deshalb auch aktiv in Netzwerken wie dem Bundesnetzwerk Bürgerschaftliches Engagement (BBE) ein, um Engagementpolitik gemeinsam weiterzuentwickeln.
6. Engagement als Ausdruck gelebter Gemeinschaft der Kirche
Engagement im kirchlichen Raum entsteht aus einer gelebten Spiritualität und aus dem Willen, Gemeinschaft zu stiften. Menschen engagieren sich aus ihrem Glauben und ihrem Werteverständnis heraus und leisten damit einen unverzichtbaren Beitrag für ein solidarisches Miteinander.
Für die CKD ergeben sich daraus drei Leitgedanken:
1. Engagement braucht spirituelle und emotionale Begleitung, die Orientierung gibt und Menschen stärkt.
2. Kirchliche Räume bilden zentrale Ankerpunkte für Engagement, als konkrete Orte wie Kirchen, Gemeindezentren und Caritas-Treffpunkte sowie im übertragenen Sinn als Räume von Orientierung, Zugehörigkeit und Gemeinschaft. Da sich auch hier derzeit vieles verändert (etwa durch größere Pastorale Räume, Zusammenlegungen von Gemeinden, Abnahme des hauptamtlichen, seelsorglichen Personals neue Verantwortungsstrukturen und eingeschränkte Öffnungszeiten kirchlicher Orte) braucht es gesicherten Zugang zu diesen Räumen und verlässliche Unterstützung für Engagierte.
3. Caritas ist Teil der Kirche und braucht strukturelle wie finanzielle Unterstützung, wenn Engagement als kirchlicher Auftrag verstanden wird.
7. Projektrahmen "Da geht (noch) was!" - CKD-Beteiligungsorte für Zukunftsmut und Gemeinsinn: Vision für morgen
Mit diesem Projektrahmen entwickeln wir Engagement weiter, damit es zugänglich, niedrigschwellig und inklusiv bleibt. Wir arbeiten daran, Menschen in belasteten Lebenslagen besser zu erreichen, spirituelle und emotionale Begleitung zu stärken und marginalisierte Perspektiven stärker einzubeziehen. Ein wichtiger Leitgedanke ist die Motivation der Engagierten. Wir setzen bewusst nicht auf den Begriff Resilienz, sondern darauf, die Motivation zu fördern und zu stärken, auch dann, wenn Hürden auftreten oder sich gesellschaftliche Bedingungen verändern.
Intersektionale Perspektiven und inklusive Netzwerke spielen dabei eine zentrale Rolle. Ebenso folgen wir einer klaren Wirkungsorientierung, die auf gesellschaftliche Relevanz und spürbare Veränderungen zielt. Angesichts des demografischen Wandels ist es entscheidend, Engagement so auszugestalten, dass es unterschiedliche Generationen, Lebenslagen und kulturelle Hintergründe gleichermaßen anspricht. Unsere Arbeit zeigt: Mit Formaten wie Plauderbänken oder der Aktion "Reden hilft" schaffen wir Orte, an denen Menschen unkompliziert miteinander ins Gespräch kommen.
8. Schlussfolgerung
Der Freiwilligensurvey 2024 zeigt, wie wichtig freiwilliges Engagement für gesellschaftlichen Zusammenhalt, lokale Stabilität und demokratische Entwicklung ist. Er macht aber ebenso deutlich, dass Menschen nur dann engagiert bleiben können, wenn Rahmenbedingungen stimmen und Engagement als gemeinsame Aufgabe verstanden wird.
Für die CKD gilt: Engagement gelingt dort, wo Menschen Zugang finden, wo sie gehört werden, wo Begegnung möglich ist und wo Kirche und Zivilgesellschaft verlässliche Partnerinnen sind.
Deshalb richten wir einen klaren Appell an Politik, Verwaltung, Kirche und Förderinstitutionen: Engagement braucht strukturelle Voraussetzungen, die Beteiligung ermöglichen, Barrieren senken und die Vielfalt der Engagierten berücksichtigen. Dazu gehören verlässliche finanzielle Grundlagen, Orte der Begegnung im Sozialraum, transparente Förderwege, Beteiligungsrechte und der politische Wille, zivilgesellschaftliche Stimmen frühzeitig in Entscheidungsprozesse einzubeziehen.
Als Fachverband im Deutschen Caritasverband bringen wir diese Perspektiven bewusst in Kirche, Politik und Zivilgesellschaft ein und stehen bereit, unsere Erfahrungen in die Weiterentwicklung einer zukunftsorientierten Engagementpolitik einzubringen.
Engagementpolitik darf sich nicht nur an Projektlogiken orientieren. Sie braucht einen Blick auf die Menschen vor Ort, auf die kleinteiligen Strukturen, in denen Solidarität entsteht, und auf die Engagierten, die täglich spüren, was Gesellschaft zusammenhält. Die CKD stehen bereit, diesen Blick mitzugestalten.